StartseiteRegionalOberschwabenRavensburgGefangen im eigenen Körper: Ravensburgerin leidet am chronischen Erschöpfungssyndrom

Erschöpfungssyndrom

Gefangen im eigenen Körper: Ravensburgerin leidet am chronischen Erschöpfungssyndrom

Ravensburg / Lesedauer: 8 min

Ravensburgerin leidet am chronischen Erschöpfungssymptom und hofft auf ein neues Long-Covid-Medikament
Veröffentlicht:04.01.2023, 19:00

Von:
Artikel teilen:

Noch vor einem Jahr war Ingrid B. aus Ravensburg-Gornhofen eine fröhliche, glückliche Frau. Schlank, sportlich, bildhübsch. Die gelernte Kinderkrankenschwester fuhr mit dem Rad zur Arbeit und machte Power-Yoga. Sie war gerne in der Natur an der frischen Luft oder traf Freundinnen zum Kaffee. Ihr Sohn beschreibt sie als liebevoll und aufopferungsvoll, einen älteren Herrn in der Nachbarschaft betreute sie bis zu dessen Tod. Heute liegt Ingrid B. nur noch im Bett. In einem abgedunkelten Raum. Starrt stundenlang an die Decke, mit Ohrstöpseln, denn Geräusche erträgt sie nicht mehr. Die 53-Jährige leidet an der schlimmsten Form des chronischen Erschöpfungssyndroms. Ihre letzte Hoffnung ist ein neues Medikament, das demnächst klinisch erprobt werden soll.

Auslöser ist unbekannt

Was die Krankheit bei ihr ausgelöst hat, weiß man nicht so genau. Als Jugendliche hatte sie Pfeiffersches Drüsenfieber. Der Erreger, das Epstein-Barr-Virus, steht seit langem in Verdacht, noch Jahre oder Jahrzehnte später Myalgische Enzephalomyelitis beziehungsweise das Chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) auszulösen. Ebenso wie andere Viren: Sars-1 und selten sogar Influenza.

Die Gornhofenerin war auch zunächst skeptisch, was die Corona-Impfung anbelangte. Erst im Dezember 2021 und Januar 2022 ließ sie sich mit Biontech impfen, hatte aber ein schlechtes Gefühl dabei. Nach der ersten Impfung verspürte sie ein Brennen in den Beinen, Gelenkschmerzen und hatte Migräne, nach der zweiten Impfung Erschöpfung und Muskelschmerzen. Und dann bekam sie Anfang März 2022 doch noch Corona, wahrscheinlich die Omikron-Variante. „Meine Mutter hatte zwei Wochen lang Erkältungssymptome und war total erschöpft, aber danach war es wieder gut“, erinnert sich ihr Sohn Sebastian . Sie machte wieder Power-Yoga beim KJC und fühlte sich etwa zwei Wochen lang normal, bis sie einen schweren Zusammenbruch erlitt.

Lautes Sprechen kann Anfall auslösen

Und seitdem ist nichts mehr, wie es vorher war. Die ersten zwölf Wochen ist Ingrid B. komplett bettlägerig, kann nicht einmal mit dem Rollator durch die Wohnung gehen. Fernsehen oder auch nur Radiohören ist an den meisten Tagen ausgeschlossen. Lautes Sprechen, ein vorbeifahrender Lastwagen oder das Blinken des Handys können einen sogenannten „Crash“ auslösen, eine Verschlechterungsphase, in der sich die 53-Jährige gar nicht mehr bewegen oder sprechen kann. Letzeres ist auch in den „guten Phasen“ nur im Flüsterton möglich. Immer wieder hat sie schwere Migräneanfälle mit unerträglichen Kopfschmerzen und Erbrechen. Sie klagt auch über „Brainfog“, Nebel im Kopf, der mit Wortfindungsstörungen einhergeht.

Meine Mutter war plötzlich kalkweiß im Gesicht und sagte zu mir: ,Basti, ich glaube, ich sterbe.'

Sebastian B.

Das Einzige, was sie heute noch selber schafft, ist, viermal am Tag mit dem Rollator auf die Toilette zu gehen. „Darauf spart sie ihre gesamte Energie“, sagt der Sohn. „Sie will sich auf keinen Fall wickeln lassen, das würde sie als Demütigung empfinden.“

Blutwäsche macht Hoffnung auf Gesundung

Im Sommer geht es Ingrid B. einmal kurzfristig besser. Sie bekommt einen Platz bei einer Blutwäsche-Therapie im bayerischen Dingolfing. Blutwäsche verbessert bei vielen Post-Covid- und Post-Vakzin-Betroffenen den Allgemeinzustand, auch wenn die Therapie noch in den Kinderschuhen steckt und von den Patienten meist selbst bezahlt werden muss. Nach der ersten Sitzung geht es der Gornhofenerin tatsächlich besser, sie kann sich danach wieder mit dem Rollator in der eigenen Wohnung bis in die Küche oder das Wohnzimmer bewegen. Und schöpft Hoffnung.

Jeden Tag fuhr Ingrid B. früher mit dem Rad zur Arbeit.
Jeden Tag fuhr Ingrid B. früher mit dem Rad zur Arbeit. (Foto: privat/Schwäbische.de)

Die zweite Sitzung ist jedoch ein Fiasko. „Meine Mutter war plötzlich kalkweiß im Gesicht und sagte zu mir: ,Basti, ich glaube, ich sterbe.'“ Der Blutdruck ist extrem abgesackt, die Behandlung muss sofort abgebrochen werden. Die weiteren drei bis vier Sitzungen können nicht mehr stattfinden, aber insgesamt geht es in den Wochen danach wieder etwas bergauf, was Ingrid B. auf die erste Blutwäsche zurückführt.

Reha macht alles noch schlimmer

Auch eine sechswöchige Reha beginnt zunächst vielversprechend und endet katastrophal. Zunächst geht es der Ravensburgerin besser, sie kann sich ihren Alltag ein Stück zurückerobern und sogar wieder selbstständig in den Speisesaal der Klinik gehen. Doch dann, in der zweiten Hälfte des Aufenthaltes, folgt wieder ein Rückfall mit wiederkehrenden Zusammenbrüchen.

Manchmal ist mir selbst das Liegen zu anstrengend.

Ingrid B.

Seitdem, also seit Mitte November, sei die Situation „schlimmer als vorher“, sagt der Sohn. An den meisten Tagen kann die 53-Jährige gar nichts machen, nur ihren Gedanken nachhängen. Auf ihrem Bett liegen Kissen mit den Gesichtern ihrer Kinder. An besonders guten Tagen kann sie leise Radio hören oder mit Sonnenbrille fernsehen oder drei Minuten mit ihren Eltern telefonieren, die anderthalb Stunden weg wohnen und auch nicht mehr mobil sind.

Selbst das Liegen strengt an

Doch diese Tage sind selten. Ingrid B. hat wochenlang auf Blättern Papier ihre Gedanken zu ihrer Krankheit aufgeschrieben. „Es fühlt sich an, als hingen lauter Gewichte an meinen Körperteilen“, schreibt sie an einer Stelle. „Manchmal ist mir selbst das Liegen zu anstrengend.“ Sie fühle sich „gefangen in meiner Wohnung, gefangen in meinem Bett, gefangen in meinem Körper“.

Beim Zeitungsinterview im Flüsterton antwortet sie auf die Frage, was sie am meisten an ihrem alten Leben vermisst: „Lachen. Schwätzen mit Freundinnen. Meine Eltern wiedersehen. Ich möchte gar nicht viel. Mein Frühstück selber machen. Duschen. Mich wieder hübsch machen.“ Nach wenigen Minuten ist sie zu erschöpft, um weiterzusprechen.

Herumärgern mit der Krankenversicherung

Als wären die gesundheitlichen Probleme nicht schon schlimm genug, legt die Krankenkasse der Frau beim Antrag auf Pflege Steine in den Weg. Zunächst wollte sie nur Pflegestufe 1 bewilligen, weil Ingrid B. in einem Anflug von Übermut selbst zur Tür schlurfte und sie öffnete, als der Medizinische Dienst klingelte, „aber das ist ein Witz, ich habe Widerspruch eingelegt“, sagt ihr Sohn. Er teilt sich die Pflege mit seinem Bruder Felix, sechs Freundinnen der Mutter beziehungsweise Frauen aus dem Dorf und dem Ex-Mann von Ingrid B., mit dem sie sich nach wie vor gut versteht. Da dieser nach einem schweren Motorradunfall aber selbst nicht gut zu Fuß ist und die Söhne eigentlich in Konstanz und Karlsruhe studieren beziehungsweise arbeiten, müsste ein professioneller Pflegedienst kommen. „Aber derzeit keine Chance“, sagt Sebastian.

In die Blutwäsche setzte die 53-Jährige große Hoffnung, aber die Behandlung musste während der zweiten Sitzung abgebrochen werden.
In die Blutwäsche setzte die 53-Jährige große Hoffnung, aber die Behandlung musste während der zweiten Sitzung abgebrochen werden. (Foto: privat/Schwäbische.de)

Denn zum Jahresende haben zwei Pflegedienste in Ravensburg aufgehört, sodass jetzt an die 200 Menschen im Stadtgebiet plötzlich ohne Pflege da stehen würden. An die Neuaufnahme seiner Mutter sei daher vorerst nicht zu denken, habe man ihm im zuständigen Landratsamt gesagt, schon gar nicht ohne höhere Pflegestufe. Dauerhaft aus dem Homeoffice arbeiten kann er nicht, weil er am Karlsruher Institut für Technologie forscht und dort im Labor sein muss. „Die meiste Zeit hat deshalb mein Bruder meine Mutter versorgt, aber er muss ja auch wieder studieren.“

Hoffen auf ein neues Medikament

Die letzte Hoffnung richtet die Familie nun auf ein neues Medikament namens BC007, das von Berliner Forschern eigentlich als Herzmittel entwickelt wurde. Laut der Herstellerfirma „Berlin Cures“ wurden damit schon 2021 vier Long-Covid-Patienten in individuellen Heilversuchen an der Universität Erlangen behandelt. „Schon durch eine einmalige intravenöse Gabe von BC007 konnte eine enorme Remission der Symptome erreicht werden, sodass man von einer Heilung sprechen konnte“, heißt es in einer Petition an die Bundesregierung von Post-Covid- und Post-Vac-Patienten, die Forschung finanziell zu unterstützen. Ein weiterer Heilversuch bei einer seit Jahren betroffenen ME/CFS-Patientin soll ebenfalls wirksam gewesen und ihren Zustand enorm verbessert haben.

Zu wissen, dass es da draußen ein Medikament gibt, das mir vielleicht helfen könnte und ich komme nicht ran, ist tragisch wie in einem Science-Fiction-Film.

Notiz von Ingrid B.

Die Wirkung des Medikaments BC007 soll vor allem in der Neutralisierung der Autoantikörper bestehen, die bei mehr als 90 Prozent der getesteten Patienten mit Long-Covid-Syndrom wissenschaftlich nachgewiesen werden konnten und im Verdacht stehen, die Symptome zu verursachen.

Große Studien beginnen erst

Aber fünf Patienten reichen bei weitem nicht, um ein Medikament in Deutschland zuzulassen. Die groß angelegten Doppelblind-Studien an mehreren Universitätskliniken beginnen erst jetzt, und es wird vermutlich Jahre dauern, bis das Mittel auf den Markt kommt.

Jahre, in denen Menschen wie Ingrid B. in abgedunkelten Räumen liegen, Angst vor dem nächsten Crash haben und sich schmerzlich an ihr Leben vor der Pandemie erinnern. Sie hofft, dass vielleicht ähnlich wie beim Impfstoff eine Notzulassung möglich ist oder sie an einer Studie teilnehmen kann. „Zu wissen, dass es da draußen ein Medikament gibt, das mir vielleicht helfen könnte und ich komme nicht ran, ist tragisch wie in einem Science-Fiction-Film“, hat sie dazu aufgeschrieben.