StartseiteRegionalOberschwabenRavensburgFußballfeld als Anker im Flüchtlingscamp

Nordirak

Fußballfeld als Anker im Flüchtlingscamp

Ravensburg / Lesedauer: 6 min

Im Flüchtlingscamp Mam Rashan gibt es kaum Möglichkeiten zur Zerstreuung – Deshalb ist das Fußballfeld ein Anker im Alltag geworden
Veröffentlicht:02.01.2018, 19:33

Von:
Artikel teilen:

Ja, sie haben überlebt. Sie konnten ihre Kinder retten, vielen gelang es sogar, dass alle aus dem engsten Familienkreis zusammenblieben und nicht dem sogenannten Islamischen Staat in die Hände fielen. Das sind die guten Nachrichten aus dem Flüchtlingslager Mam Rashan. Auf der anderen Seite stehen die Erzählungen über die allgegenwärtige Niedergeschlagenheit der Menschen dort und ihr ungewolltes Nichtstun, weil sie keine Arbeit finden. Ein großer Lichtblick in dieser Tristesse ist der Fußballplatz, der durch Spenden von Leserinnen und Lesern der „Schwäbischen Zeitung“ finanziert wurde.

Die Jesiden, die es nach Mam Rashan geschafft haben, haben es besser als andere Flüchtlinge im Nordirak . Denn in dem Camp gibt es Wasser, Nahrungsmittel, Strom, ein Dach über dem Kopf und eine Grundschule. Das reicht, um über die Runden zu kommen. Doch für die psychische Gesundheit der Menschen reicht es eben nicht.

Keine Aufgabe zu haben, ist schwer zu ertragen

„Ich gehe immer wieder von dem Container, in dem wir wohnen, zum Tor des Camps und dann wieder zurück. Ein Ziel habe ich nicht“, sagt der 44 Jahre alte neunfache Vater Jasmin Khalaf Murad, der vor seiner Flucht als Tagelöhner in einem Dorf im Shingal-Gebiet gearbeitet hat und nun arbeitslos ist. Sein jetziges Leben mache ihn depressiv. „Mir geht es ganz schlecht“, sagt er. Damit beschreibt er die Situation vieler Menschen in dem Camp, die es nicht schaffen, ihrem Leben dort etwas Sinnstiftendes abzugewinnen. Für die Jesiden, die es in ihrer Heimat gewohnt waren, von ihrer eigenen Hände Arbeit zu leben, ist es offensichtlich nur schwer zu ertragen, keine Aufgabe zu haben. Auch deshalb sehnen sie sich in ihre Heimat zurück, die jedoch auf Jahre kaum bewohnbar sein wird.

"Wenn wir den Ball rollen lassen, vergessen wir alles"

„Ehrlich gesagt, bevor es den Fußballplatz gab, war ich kurz davor, verrückt zu werden“, sagt der 21-jährige Fawaz Haider Khedr, der erst vor wenigen Monaten in Mam Rashan geheiratet hat. Er habe sich ununterbrochen Gedanken gemacht – über die Vergangenheit, die Flucht, seine Heimat, die Gewalt, die ihnen angetan wurde. Inzwischen geht es ihm besser. „Wenn wir den Ball rollen lassen, vergessen wir alles“, sagt er. Das gelte für Zuschauer wie Spieler gleichermaßen.

Es ist schon auffällig, wie sehr sich das Lebensgefühl, das per Skype-Interviews nach Deutschland vermittelt wird, von Flüchtling zu Flüchtling unterscheidet: Männer, Frauen und Kinder, die im Camp Fußball spielen, berichten ausnahmslos, wie gut ihnen diese Ablenkung tut. Hingegen die Frauen mittleren Alters, die es im Nordirak offensichtlich ebenso selten auf das Fußballfeld schaffen wie in Oberschwaben, klagen über körperliche Gebrechen und Schmerzen, auch über Angstzustände. Es scheint so, als könne der Sport mit dem Ball ein Stück weit die Seele heilen.

Frauen im Fußballfieber

„Ja, ich spiele auch Fußball“, sagt die 21-jährige Ahlam Shamo Mesho, die mit leuchtenden Augen in die Skype-Kamera spricht. Vor nicht allzu langer Zeit gab es in Mam Rashan sogar eine kleine Sensation: Die jesidischen Flüchtlinge organisierten ein Frauen-Fußball-Turnier, Fotos bezeugen den großen Kampfgeist der Nachwuchsspielerinnen. Mit wehenden Pferdeschwänzen verteidigen junge Jesidinnen in Sporttrikots den Ballbesitz – vier Mannschaften mit jeweils sieben Spielerinnen traten gegeneinander an. Dass das Team von Ahlam im Finale verloren hat, ist nebensächlich. Viel wichtiger ist die Tatsache, dass die jesidischen Mädchen und jungen Frauen das Fußballfeld für sich erobert haben. „In ihrer Heimat, in ihren Dörfern wäre das kaum möglich gewesen“, sagt Thomas Shairzid, der selbst aus dem Nordirak stammt und für die „Schwäbische Zeitung“ übersetzt. „Im Shingal-Gebiet leben die Menschen sehr traditionell. Frauenfußball gehört da mit Sicherheit nicht zum Zeitvertreib.“

Wenn der Tag zu viele Stunden hat

Es gibt sie also doch, die kleinen Ereignisse im Camp, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft machen. Hierzulande alltägliche Ereignisse, die vielleicht sogar eher als Last, denn als Privileg empfunden werden. Wenn die Kinder ständig zu ihren Hobbys – Fußball, Eishockey, Jiu-Jitsu – kutschiert werden müssen. Wenn der Tag immer zu wenige Stunden hat, um all das zu erledigen, was man sich eigentlich vorgenommen hat. An den Gesichtern der Menschen im Camp kann man ablesen, wie es sich wohl umgekehrt anfühlen muss: Wenn der Tag zu viele Stunden hat, in denen die Gedanken kreisen können und die schlimmen Erinnerungen an die Verbrechen des „Islamischen Staates“ wieder hochkommen. Deshalb ist jede Minute, in denen die Flüchtlinge nicht von ihren Sorgen geplagt werden, eine gute Minute – und jede Abwechslung willkommen.

Sinnvolle Arbeit ist knapp

Die 21-jährige Ahlam hilft beispielsweise, wenn sie nicht auf dem Fußballplatz kickt, ehrenamtlich bei einer Organisation, die Computerkurse anbietet. Zudem lernt sie Englisch und arbeitet in der Schneiderei. Zur Schule gehen konnte sie im Camp nicht mehr, weil es dort nur eine Grundschule gibt. „Das vermisse ich am meisten“, sagt die junge Frau. Auch ihr Altersgenosse Fawaz Heider Khedr arbeitet ehrenamtlich, täglich von neun bis 15 Uhr im Büro des Camps – er ist für die Ordnung in einem Teil des Lagers zuständig. Nach 15 Uhr ist er dann auf dem Fußballplatz zu finden.

Das grüne Fußballfeld mitten in der kargen, staubgrauen Landschaft im Nordirak – dass es als Anlaufstelle für die Bewohner von Mam Rashan dermaßen wichtig werden könnte, hatte vor einem Jahr wohl kaum jemand erwartet. Gedacht als Zeitvertreib ist es offensichtlich zu einer Art Anker im Alltag geworden. Und was würden sich Ahlam und Fawaz wünschen, wenn sie weitere Wünsche frei hätten? Ihre Antwort kommt prompt: „Einen Volleyballplatz, einen Spielplatz für die Kinder und eine Art Garten, wohin die Familien gehen können“, sind sie sich einig.

Dank an die Leser

Aber bevor das Gespräch zu Ende ist, richten sie noch eine Botschaft an die Leser der „Schwäbischen Zeitung“. „Ihr habt so viele wirklich wichtige Dinge für uns ermöglicht“, sagt der 21-Jährige. „Vielen Dank für Eure Mühe, Eure Projekte und Eure Ideen.“ Sein Dank kommt von Herzen, das spürt man trotz der rund 4000 Kilometer, die zwischen dem oberschwäbischen Ravensburg und dem nordirakischen Camp Mam Rashan liegen.