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Sportveranstaltung

Hüttis EM-Tagebuch: Im Land der Wessis und Ossis

Danzig / Lesedauer: 3 min

Hüttis EM-Tagebuch: Im Land der Wessis und Ossis
Veröffentlicht:17.06.2012, 20:10

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S o eine Sportveranstaltung wie die EM hat ja weit mehr zu bieten als nur Fußball. Sie ist auch eine kostenlose Lektion in Geschichte und eine ausgezeichnete Gelegenheit, sein Bild von der Welt um ein paar Ecken zu erweitern, die man sonst wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen würde. Wieviel Deutsche kommen schon in die Ukraine? Wir EM-Berichterstatter waren jetzt zum dritten Mal innerhalb weniger Tage dort und konnten Eindrücke sammeln, die mehr über diese ehemalige Sowjetrepublik verraten als die Berichterstattung in Deutschland über die Inhaftierung der Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko , die in Charkow einsitzt.

Es waren Reisen in ein gespaltenes Land. Dass im europäisch geprägten Lwiw unsere Reiseleiterin, eine Deutschlehrerin, auf den Namen Maria hört, ihre Kollegin im russisch geprägten Charkow hingegen auf Lyudmyla, ist Programm. Die beiden Damen verbindet mehr als der Beruf: die schwierigen Lebensumstände, die miese Bezahlung und das Gefühl des Überdrusses wegen ihrer korrupten Politiker. Aber die eine zieht es nach Mitteleuropa, die andere steht in Treue fest zum langjährigen Partner Russland.

Das kann niemand wundern, der beide Städte erlebt hat, solch ein Kontrast ist in Deutschland undenkbar. Die Menschen in Lwiw, dem früheren Lemberg, haben in 100 Jahren sieben Mal die Staatsbürgerschaft gewechselt. Lemberg gehörte mal zu Österreich-Ungarn und war – wie in Spiegel online nachzulesen – „nach Wien, Budapest und Prag die viertwichtigste Metropole der Habsburger Monarchie“.

Restaurierungsbedürftige, aber vom Krieg verschonte, beeindruckende Architektur aus allen Epochen macht die 735 000-Einwohner-Stadt mit ihrer Kaffeehaus-Kultur nach Ansicht von Touristik-Experten zu einer „unentdeckten Perle Europas“. Charkow dagegen kann und will sein sowjetisches Erbe nicht verleugnen. Weite Boulevards, riesige Plätze, Plattenbauten und das unvermeidliche Lenin-Denkmal kennzeichnen die 1,5-Millionen-Metropole im ukrainischen Westen. Europa ist weit weg hier, die russische Grenze aber nur 70 Kilometer.

„Wir haben auch unsere Ossis und Wessis“, erzählt Lyudmyla, die zu den 41 Prozent Russen zählt, die in Charkow leben. „Ich mag das Ukrainische nicht, ich spreche lieber Russisch. Aber wenn wir im Westen unseres Landes russisch reden, werden wir nicht anerkannt. Die Leute hier im Osten sind toleranter.“ Während sich der Westen des Landes vom sowjetischen Erbe abzusetzen versucht, halten es Lyudmyla und ihre Mitbürger im Osten mit Russland: „Unsere Produkte sind doch auf dem europäischen Markt gar nicht konkurrenzfähig, also treiben wir Handel mit den Russen.“

Dafür steht auch der umstrittene Präsident Viktor Janukowitsch, der aus dem ostukrainischen Donezk stammt und die einzige Amtssprache Ukrainisch noch nicht lange beherrscht. 31 Prozent der Bevölkerung sprechen ausschließlich Russisch. Janukowitschs Partei will Russisch als zweite Amtssprache etablieren, gegen den erbitterten Widerstand aus dem westlichen Landesteil. Von der Politik will Lyudmyla aber nicht viel wissen: „Es ändert sich ja nichts. Die, die jetzt regieren, machen dasselbe wie die vorher. Ein reines Gewissen hat keiner von denen, und wir kleinen Leute haben ja gar keinen Einblick, was da läuft.“

Lyudmyla hat genug mit ihrem Alltag zu tun: „Jeder muss nach sich selbst schauen und sehen, wie er überlebt.“ Schwer genug, das Deutsch-Programm an der Universität hat die Regierung „sehr stark zurückgefahren“. Andernorts ist das Leben leichter: „Wenn unsere Leute ins Ausland gehen, werden die alle was – aber hier ist das nicht möglich.“

Die resignative Grundstimmung hat sie gemein mit der Kollegin Maria in Lwiw. „Ich bin der Politik müde“, sagt die. „Wir haben doch schon alles gemacht, aber geändert hat sich gar nichts.“