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Kriegsende

Wurzach im Glück: Das Kriegsende kommt gewaltlos

Bad Wurzach / Lesedauer: 6 min

Dem gesunden Menschenverstand einiger Volkssturmleute ist es wohl zu verdanken, dass es zu keinem Blutvergießen kam
Veröffentlicht:30.04.2020, 15:00

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Wurzach, Ende April 1945. Der Krieg näherte sich seinem Ende, jeder wusste, dass er verloren war, aber laut gesagt werden durfte das nicht. Und jeder befürchtete für sich und seinen Ort das Schlimmste.

Jeder Ort hat seine eigene Besetzungsgeschichte, das gilt auch für Wurzach und seine Teilgemeinden. Entsprechend den Durchhaltebefehlen waren an allen Ortseingängen Panzersperren errichtet worden, die aber höchstwahrscheinlich keinen Panzer lange aufgehalten hätten. Jedem war aber klar, dass eine geschlossene Panzersperre das Signal für die heranrückenden feindlichen Truppen war, dass der Ort verteidigt und eine gewaltlose Besetzung des Ortes nicht möglich sein würde.

Ins Ried geflüchtet

Die Verantwortlichen aus Partei und Rathaus zogen es vor, im Ried unterzutauchen und die Entscheidung über den richtigen Zeitpunkt der Öffnung der Panzersperren anderen zu überlassen. Der NSDAP-Ortsgruppenleiter Rottler berichtet in seinem Rechenschaftsbericht für die Spruchkammer, ihm sei für diesen Fall von SS-Leuten mit dem Tod gedroht werden. Auch einige Zeitzeugen berichteten, dass noch am 27. April SS-Schergen Wurzacher Bürger gesucht haben sollen, die sich für die Nichtverteidigung einsetzten.

Sicher machten sich viele Menschen in Wurzach auch die Hoffnung, dass das Internierungslager im Schloss die Stadt vor einer Beschießung schützen würde.

POW ausgelegt

Die Internierten im Schloss hatten schon in den Tagen zuvor im Schlosshof auf dem Boden ein großes POW (Prisoners of War) ausgelegt, um die Luftaufklärung auf das Lager aufmerksam zu machen. Sie waren fest überzeugt, dass sie von „ihren Jungs“, also britischen Soldaten oder vielleicht auch amerikanischen Truppen befreit würden.

Die britischen und amerikanischen Truppen waren tatsächlich vom alliierten Hauptquartier mit Skizzen über die Lage von Kriegsgefangenen- und Internierungslager ausgestattet. Dies galt aber nicht für die französische Armee unter dem Befehl von General de Lattre de Tassigny, die viel weiter als erwartet nach Osten Richtung Iller und Vorarlberg vorstieß. Die Truppen, die auf Wurzach vorrückte, gehörten zum CC1 (Combat Command), einer der drei taktischen Kampfgruppen der 1. Panzerdivision. Eine Panzerabteilung stieß am 28. April Richtung über Wurzach Richtung Kißlegg vor. Am gleichen Tag stieß das CC 2 Richtung Seibranz, Aichstetten und Leutkirch vor und kam dabei – von Dietmanns kommend – nach Wurzach.

Ziel Füssen

Im Raum Saulgau – Stockach – Ravensburg befanden sich in in der letzten Aprilwoche keine geschlossenen deutschen Truppen mehr. Der Kommandierende General des LXXX. Armeekorps hatte am 26. April den Befehl gegeben: „Auflösen in infanteristische Stoßtrupps und Durchschlagen mit Ziel Füssen.“ Solche einzelne Kampfgruppen, vielleicht auch SS-Truppen, waren es dann, die vereinzelt Widerstand leisteten und damit unnötige Gewalt provozierten, wie das Beispiel Ziegelbach zeigt.

Dort hatten in diesen letzten Apriltagen versprengte Reste der Wlassow-Armee und – nach Zeitzeugenberichten – eine SS-Einheit Quartier genommen hatten. Diese feuerten am 26. April vom Haidgauer Bahnhof aus auf eine von Waldsee her kommende Panzerabteilung. Die französische Panzerspitze zog sich zurück, um am nächsten Tag wieder vorzustoßen. Dabei fanden elf junge deutsche Soldaten den Tod, die den Feind mit Panzerfäusten aufhalten wollten. Und dann wurde Ziegelbach, aber auch einige Einzelgehöfte auf der Haidgauer Haid, unter Beschuss genommen. Einige Häuser wurden schwer beschädigt, zum großen Glück wurde keiner der Einwohner verletzt oder gar getötet.

Gottesberg als Zuflucht

In Wurzach, wo diese Kampfhandlungen gut zu hören waren, wuchs die Angst vor den herannahenden französischen Truppen. Mädchen und Frauen wurden in den Kellern versteckt, Patienten aus dem Spital wurden in das Kloster Maria Rosengarten gebracht, im Keller des Gottesbergs hatten Menschen schon Tage zuvor Zuflucht gesucht.

Dem gesunden Menschenverstand einiger Volkssturmleute ist es wohl zu verdanken, dass es zu keinem Blutvergießen kam, da sie rechtzeitig die Panzersperren beseitigten. Zwei Wurzacher Bürger und ein Fremdarbeiter aus Luxemburg gingen den anrückenden französischen Truppen, die sich vorsichtig über den Leprosenberg der Stadt näherten, mit einer weißen Fahne entgegen und übergaben die Stadt.

Keine Schüsse

Einige Zeitzeugen waren lange überzeugt, dass Wurzach auch von amerikanischen Truppen besetzt worden sei, da sie sich an die Sherman-Panzer erinnerten, die langsam in die Stadt einrollten. Etwa 40 Panzer oder gepanzerte Fahrzeuge fuhren durch die Stadt, ohne dass ein einziger Schuss abgefeuert wurde. Viele Wurzacher erinnern sich an diesen Moment, diese Mischung aus Erleichterung, dass der Krieg endlich, endlich vorbei war und Angst davor, was die Fremdherrschaft wohl bringen würde.

Die Internierten im Schloss begrüßten die einmarschierenden Truppen mit großer Begeisterung. In ihren Erinnerungen taucht immer ein namenloser französischer Offizier auf, der den Stacheldraht im Schlosshof niederriss und ihnen verkündete: „Vous êtes libres!“ (Sie sind frei!).

Fast tödliche Verwechslung

Im Marschtagebuch der Einheit wird erwähnt, man habe ganz unerwartet ein „camp de concentration“ befreien können. Aus diesem Grunde hielten die eingerückten Truppen die Schutzpolizisten, die das Lager im Schloss bewacht hatten – und zum Schluss tatsächlich auch vor Übergriffen von SS-Leuten geschützt hatten – für SS-Männer und wollten kurzen Prozess mit ihnen machen.

Sie hatten ihr Leben den Internierten zu verdanken, die den Franzosen klar machen konnten, dass es sich nicht um KZ-Schergen, sondern um harmlose Polizisten handelte. Die französischen Offiziere erklärten den befreiten Internierten auch, dass sie den Befehl hatten, bei erkennbarem Widerstand das größte Gebäude der Stadt unter Beschuss zu nehmen – und das wäre das Schloss gewesen.

Trikolore gehisst

Anstatt den Hakenkreuzfahnen, die schon längst verbrannt worden waren, wurde in der Stadt nun unter französischem und englischem Jubel die Trikolore gehisst. Die französischen Kampftruppen zogen sehr schnell Richtung Leutkirch weiter, während nur eine kleine Einheit zur Besetzung der Stadt zurückblieb und befreite französische Kriegsgefangene durch die Stadt patrouillierten.

Wurzach hatte Glück gehabt, das Kriegsende fand gewaltlos und ohne Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung statt, auch nicht von den marokkanischen Hilfstruppen, vor denen man sich so gefürchtet hatte. Zumindest gibt es keine Berichte über solche Vorfälle.

Viele ältere Wurzacher sind überzeugt, dass sie dies Frank Ray, dem stellvertretenden englischen Lagerkapitän des Internierungslagers zu verdanken hatten, der für die ersten Wochen der Besetzung zum provisorischenundefinedBürgermeister von Wurzach ernannt wurde.