
„Vorlesen schenkt Welten“ - so steht es über der Konzeption des Caritas-Projekts Lesewelten der Stiftung Kinderchancen Allgäu. Doch verschenkt werden Welten von den Eltern immer seltener.
Fast ein Drittel aller Kinder in Deutschland bekommen selten oder nie von ihren Eltern vorgelesen. Das hat jüngst eine Studie des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen gemeinsam mit „Die Zeit“ und der Deutsche-Bahn-Stiftung ergeben. „Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass Kinder zu Hause vorgelesen bekommen“, weiß auch die Bad Wurzacherin Michaela Lendrates, die Projektleiterin der Lesewelten.
Kleine Gruppen
Das Projekt geht daher in Grundschulen und Kindergärten, um dort den Kindern vorzulesen. In kleinen Gruppen von maximal zehn Mädchen und Jungen hören sie regelmäßig eine Geschichte. 2016 begann die Aktion in Bad Wurzach, Aitrach und Aichstetten, in den Folgejahren wurde sie auf Leutkirch und Isny ausgeweitet.
Zentrales Ziel ist es, bei den Kindern die Freude am Buch zu wecken. Gleichsam nebenbei wird dadurch aber viel mehr erreicht. Geduld, Ausdauer und Konzentration werden gefördert, die Fantasie der Kinder wird angeregt. Durch die Gruppen wird soziale Kompetenz, die Fähigkeit zum Miteinander, erreicht. „Die Kinder reden während der Lesestunde und danach miteinander über das Gehörte, stellen Fragen, spinnen die Geschichte vielleicht sogar weiter“, so die Projektleiterin. Vor allem aber wird der Wortschatz der Kinder erweitert und damit ihre Sprachkompetenz ausgebaut.
Integration unterstützen
All das kommt nicht nur, aber in besonderem Maße den Mädchen und Jungen mit Migrationshintergrund zugute. „Sie bekommen oft noch weniger Unterstützung von daheim“, sagt Michaela Lendrates. Durch die Vorlesestunden unterstützen die Lesewelten daher deren Integration.
Finanziert von der Stiftung und organisiert von Ramona Wiest und Michaela Lendrates leben die Lesewelten freilich von den ehrenamtlichen Vorlesern. „Sie sind unser großer Schatz“, ist die Bad Wurzacherin des Lobes voll. „Jeder ist durch seine eigene Art bereichernd, und alle eint der eigene hohe Anspruch, dem sie gerecht werden wollen. Nämlich ihre Freude am Buch weiterzuvermitteln.“
„Super Gespür“
Die Vorleserinnen und Vorleser schenken den Kindern ein hohes Gut: Zeit. Und sie lesen nicht nur vor. Sie entdecken mit den Kindern die Geschichte, die sie mit einem „super Gespür“ (Lendrates) auswählen, reden mit ihren kleinen Zuhörern, wie es denn nun weitergehen könnte, machen den Text durch Tonfall und Gebärden noch erlebnisreicher. „Ihr Einfallsreichtum ist sehr belebend.“ Dafür üben die Ehrenamtlichen auch zu Hause, weiß die Projektleiterin.
„Sie bringen den Kindern eine Wertschätzung entgegen, die eine Fachkraft in Schule und Kindergarten ihnen einfach nicht geben kann“, fasst es Michaela Lendrates voller Hochachtung zusammen. Diese Rückmeldung erhält sie auch von den Einrichtungsleitungen. „Sie empfinden das als Bereicherung des Alltags und als schönen Mehrwert.“
Keine Kuschelecken
Durch die Corona-Pandemie ruht die Arbeit in diesem Jahr zwar nicht ganz, aber sie ist stark eingeschränkt. „Wo es möglich ist, weil wir genügend Platz und die Ehrenamtlichen dazu haben, führen wir die Lesewelten fort. Aber das ist ungefähr nur ein Drittel des normalen Umfangs. Und auf Kuschelecken müssen wir natürlich auch verzichten“, sagt Michaela Lendrates bedauernd.
Ihre Aufgabe in diesen Monaten ist es, den Kontakt zu den Ehrenamtlichen aufrecht zu erhalten. „Wir wollen die erreichte Flächendeckung nicht verlieren, wenn wir wieder in vollem Umfang loslegen können.“
Bilinguale Bücher
Die Spenden aus der Aktion „Helfen bringt Freude“ von „Schwäbischer Zeitung“ und Caritas werden bei den Lesewelten in den Kauf von Bücherkisten fließen. Sie sind ein weiterer wichtiger Pfeiler der Arbeit. In den Grundschulen und Kindergärten, die sich an der Aktion beteiligen, stehen diese Kisten mit etwa 20 Büchern zum Ausleihen bereit und werden auch gut genutzt.
„Wir wollen vor allem mehr bilinguale Bücher anschaffen“, berichtet Michaela Lendrates, „damit mehr Kinder mit Migrationshintergrund Bücher mit nach Hause nehmen können. In diesen Büchern steht die Geschichte auf der einen Seite in Deutsch, auf der anderen in ihrer Muttersprache.“ Dies, so hofft die Projektleiterin, mache es auch möglich, dass die Eltern zu Hause ihren Kindern daraus vorlesen und ihnen so ganze Welten schenken.