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„Berichten über Suizide folgen oft Nachahmer“

Bad Waldsee / Lesedauer: 3 min

„Berichten über Suizide folgen oft Nachahmer“
Veröffentlicht:28.05.2010, 19:10

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Vor zwei Wochen hat sich in Durlesbach eine junge Frau mit ihrem Kind vor den Zug geworfen. Die Polizei hat den Suizid nicht an die Medien weitergegeben. Die Schwäbische Zeitung hat nicht darüber berichtet. SZ-Redakteurin Stefanie Järkel hat mit Uwe Stürmer, Leiter der Polizeidirektion Ravensburg darüber gesprochen, warum die Polizei nur in Ausnahmefällen über Suizide informiert.

SZ : Vor zwei Wochen hat sich bei Durlesbach eine junge Frau aus Reute mit ihrem Kind vor den Zug geworfen. Beide sind gestorben. Die Polizei hat den Vorfall nicht gemeldet. Warum nicht?

Uwe Stürmer: Der Hintergrund ist, dass Berichte über Suizide sehr häufig Nachahmer nach sich ziehen. Gerade bei Bahnleichen haben wir bei einer Berichterstattung in den Tagen danach erhöhte Suizidgefahr. Bei den Menschen, die sich latent mit Suizidgedanken tragen, gehen die Antennen auf. Die sagen sich, da hat es einer gemacht. Und je konkreter Ort und Zeit eines Suizides benannt werden, umso eher besteht die Gefahr der Nachahmungstaten.

SZ: Warum?

Stürmer: Diese Orte haben dann eine besondere Anziehungskraft. Wenn mal ein solcher Ort auserkoren ist, dann wird er häufiger benutzt. In den 80er Jahren sind in unschöner Regelmäßigkeit Menschen vom Stuttgarter Fernsehturm gesprungen – insgesamt 14. Das hat erst aufgehört, als ein Schutzgitter angebracht wurde. Vor diesem Hintergrund sind wir sehr zurückhaltend. In dem Fall in Durlesbach waren auch die Angehörigen sehr stark daran interessiert, nicht noch durch Presseberichte belastet zu werden.

SZ: Gibt es für diesen Nachahmungseffekt wissenschaftliche Untersuchungen?

Stürmer: Als München in den 80er Jahren seine S-Bahn bekommen hat, hat die Polizei erst offensiv über Suizide berichtet. Dann haben die Beamten festgestellt, dass sie häufig nicht nur eine Bahnleiche hatten, sondern kurz darauf weitere folgten. Also haben sich die Beamten darauf geeinigt, nur noch von Notarzteinsätzen zu sprechen – daraufhin hat sich die Zahl der Suizide deutlich reduziert. Der Vorgang wurde damals auch wissenschaftlich begleitet. Man spricht allgemein auch vom „Werther-Effekt“. Als Goethe, zunächst anonym, seinen Roman „Die Leiden des jungen Werther“ veröffentlichte, führte dies zu einem deutlichen Anstieg der Suizid-Rate. (In dem Roman aus dem Jahr 1774 tötet sich Werther aus Liebeskummer, Anmerkung der Redaktion)

SZ: Manchmal geben Sie aber auch Informationen über Suizide an die Medien weiter.

Stürmer: Das machen wir, wenn der Fall ohnehin von einer Vielzahl Menschen wahrgenommen wurde – wenn jemand sich vom Hochhaus stürzt oder vor den Zug wirft. Aber es gibt ja auch andere Unglücke, über die nicht berichtet wird. Wenn jemand vom Dach fällt, geben wir nichts weiter. Außerdem sind Suizide tragische Belastungen für die Angehörigen. Da muss man sich die Frage stellen, ob man das entsprechend veröffentlichen muss.

SZ: Hat sich die Vorgehensweise in den vergangenen Jahren allgemein geändert?

Stürmer: Als die Sensibilität noch nicht so da war, da hat man auch über Bahnleichen deutlich mehr berichtet. Es gibt bundesweit etwa 1000 Bahn-Suizide pro Jahr. Das sind am Tag etwa drei. Das ist schon eine relativ häufige Art, sich das Leben zu nehmen.

SZ: Gerade der Suizid auf den Bahnschienen wird für Beamte vermutlich besonders belastend sein. Inwiefern helfen Sie Ihren Beamten bei der Verarbeitung solcher Fälle?

Stürmer: Eine überfahrene Person ist eine erhebliche Belastung für alle Beamten. Besonders aber trifft es den Streifenbeamten, der das nicht jeden Tag sieht – vor allem, wenn Kinder betroffen sind. Die Beamten vom Dezernat für Tötungsdelikte sind häufiger mit entsprechenden Fällen konfrontiert. Wichtig ist, eine professionelle Distanz wahren. Wir haben seit 10 Jahren eine Koordinierungsstelle für Konflikthandhabung und Krisenmanagement. Das sind Konfliktberater, Polizeiärzte und Polizeiseelsorger. Wenn wir solch belastende Situationen haben, dann bekommen Beamte auch mal ein Gesprächsangebot. Es geht darum, eine Posttraumatische Belastungssituation zu vermeiden – dass Bilder, die man wahrnimmt, nicht zur Belastung werden.