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Müllsammelaktion

„Wir haben hier alles und sind trotzdem nicht zufrieden“

Lindau / Lesedauer: 5 min

Die Lindauerin Christina Bouhler lernt bei ihrem Praxissemester in Honduras Dankbarkeit
Veröffentlicht:13.11.2019, 18:39

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Christina Bouhler erzählt mit leiser Stimme von dem Erlebnis, welches ihre Zeit in Honduras besonders prägte. Nach einer Müllsammelaktion sei sie mit einem Kollegen zu einem riesigen Müllberg außerhalb der Stadt gefahren. „Das war aber keine Mülldeponie. Das war eine freie Fläche Müll, die sich über einen Kilometer zog. Und da leben Geier und Hunde, aber viel schlimmer: auch viele Menschen und Kinder.“

Sie verteilten dort Essen und Trinken, wohlwissend, dass das nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein würde. Deshalb habe sie nicht gewusst, wie sie sich verhalten sollte, auch wenn sich die Menschen sehr darüber freuten. „Ich wollte nicht die weiße Mutter Theresa spielen und habe versucht, mich zurückzuhalten.“ Erst auf der Rückfahrt habe sie richtig realisiert, was sie gesehen hatte. „Alles kam hoch, es hat mich kaputt gemacht. Ich habe mich einfach hilflos gefühlt.“ Solche Bilder kennen die meisten vielleicht aus dem Fernsehen, aber wie schlimm es wirklich ist, könne eine Doku nicht zeigen, sagt sie.

Die 22-jährige Lindauerin studiert Soziale Arbeit in Berlin. Im April ging sie für ihr Praxissemester fünf Monate nach Lateinamerika. Dort hat sie in der Stadt Danlí im Kolping-Büro gearbeitet. Kolping ist ein katholischer, internationaler Sozialverband und engagiert sich weltweit für soziale Projekte. Im September ist sie zurückgekommen, jetzt sitzt sie in einem Café in Lindau und erzählt von ihren Erfahrungen.

In Honduras engagiert sich Kolping vor allem im landwirtschaftlichen Bereich, speziell im Kaffeeanbau. Daneben gebe es auch Schweinezucht- und Bäckerei-Projekte. „Dort steckt hinter sozialer Arbeit etwas ganz anderes als in Deutschland“, erklärt Bouhler. Das liege vermutlich daran, dass die Arbeit der Menschen viel enger mit ihrem sozialen Leben verzahnt sei, als es in Deutschland der Fall ist. In den Projekten verhilft Kolping den Menschen zu fairen Arbeitsbedingungen, Löhnen und Lebensumständen.

Während ihrer Zeit in dem mittelamerikanischen Land hat die 22-Jährige nicht nur im Büro gearbeitet, sondern drei verschiedene Projekte besucht, darunter zwei Kaffeeplantagen. „Einmal bin ich morgens mit hoch in die Plantagen zur Ernte gegangen. Während die anderen auch noch Arbeitswerkzeuge schleppten, war ich schon mit mir selbst überfordert. So anstrengend war das. Und die machen das jeden Tag.“

Sie sei noch gar nicht zu 100 Prozent wieder hier. „Ich bin irgendwo dazwischen.“

Die vergangenen Monate waren intensiv. Jetzt stehe sie vor der großen Herausforderung, das Erlebte zu verarbeiten und die daraus gewachsenen Vorsätze umzusetzen.

Erstmal das Zimmer ausgeräumt

Ein erster Schritt: Alles Unnütze aus dem Zimmer raus. „Ich habe jetzt fünf Monate aus dem Rucksack gelebt und festgestellt, dass ich nicht so viel brauche.“ In ihrem Zimmer habe sie über die Jahre viel Zeug angesammelt, weil sie dachte, sie brauche es. „Die Menschen in Honduras sind mit so wenig so glücklich. Wir haben hier alles und sind trotzdem nicht zufrieden.“ Eine ihrer größten Befürchtungen sei gewesen, in Deutschland nicht mehr mit der Konsumgesellschaft und dem Luxus klarzukommen. „Zum Ende meiner Zeit stand ich unter einer kalten Dusche unter freiem Himmel. Ich dachte, ich müsste doch eigentlich die heiße Dusche vermissen. Tat ich nicht.“ Die 22-Jährige ist selbst überrascht, wie schnell sie sich an das Leben in Honduras gewöhnte. Jetzt könne sie sagen, dass sie viel Luxus gar nicht mehr brauche.

Ein bisschen Luxus darf aber sein. Sie habe sich für 100 Euro Tatico-Kaffee aus den Kolping-Projekten gekauft. Bouhler wolle mehr auf ihr Kaufverhalten achten. Durch ihre Arbeit mit den Kaffeeprojekten sei es ihr wichtig, Wert auf fair gehandelten und nachhaltigen Kaffee zu legen. Bei dem Tatico-Kaffee wisse sie schließlich, dass dieser unter guten Bedingungen produziert werde.

Wichtig sei ihr, von ihren Erfahrungen zu berichten. Sie möchte die Toleranz, die sie erlebt hat, weitertragen. Außerdem sei es von Bedeutung, über die Zustände in Honduras und anderen ärmeren Ländern zu reden, denn „niemand geht freiwillig aus seinem Heimatland weg“. Sie habe das erlebt, zwei ihrer Freunde haben während ihrer Zeit dort das Land verlassen, berichtet die Studentin. Da es schwierig sei legal auszuwandern, treffe es eher zu, von „Flucht“ zu reden.

Immer wieder habe sich die Lindauerin die Frage nach der Gerechtigkeit gestellt, denn es gebe so viele Probleme in dem Land: Korruption, Banden, Drogen. Es sei schwierig, die politische Situation des Landes zu durchschauen. Aber sie sehe die Fehler im System. Oft fehle es an Schulbildung und Krankenversorgung. Dazu kämen die Auswirkungen des Klimawandels. Sie sei in der Trockenzeit angereist. Früher, so haben es ihr die Einwohner berichtet, habe es in der Trockenzeit gelegentliche Regenfälle gegeben. Heutzutage gebe es selbst in der Regenzeit wenig Regen. Das führe zu Wassermangel und Waldbränden.

Die Menschen dort seien ihr, trotz dieser Umstände, immer als fröhliche, zufriedene und gastfreundliche Menschen begegnet. Ob das vielleicht an ihrer Haut- und Haarfarbe liege, habe sie sich oft gefragt, aber keine Antwort gefunden.

Den Alltag der Menschen mitzubekommen, sei „das Coolste überhaupt“ gewesen. Ihr gefalle es, wie die Menschen dort leben. Viele Großfamilien leben mit mehreren Generationen in einem Haus. Die Häuser seien offen und ständig sei Besuch da, man sei einfach nie wirklich alleine.