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Vom Bodensee verschluckt: Zwei Hunde finden einen Mann, der ein Jahr lang verschollen war

Lindau / Lesedauer: 13 min

Der Mann ist vor gut einem Jahr bei einem Unfall im Bodensee verschwunden. Kürzlich wurde er gefunden. Mit einer Methode, die es so vorher noch nie gab.
Veröffentlicht:11.01.2022, 19:00

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Der Tag war wie gemacht für einen Ausflug auf dem Bodensee: Als acht Männer, alle um die 70, von Langenargen aus mit dem Motorboot in Richtung Lindau aufbrachen, strahlte die Sonne, die Luft war windstill. Gut eine Stunde später strahlte die Sonne immer noch. Doch auf dem Boot herrschte das blanke Chaos. Mitten in diesem Chaos ging Rolf Schnitzer einfach unter. Ein Jahr lang blieb er vom Bodensee verschluckt. Bis sich eine kleine Gruppe von Experten noch einmal auf die Suche macht – und dabei ein Experiment wagt.

Das Wohnzimmer von Christina Schnitzer ist voller gerahmter Fotos, sie sind im ganzen Raum verteilt. Sie zeigen ihren verstorbenen Mann. Mal mit ihr, mal mit dem gemeinsamen Sohn. Auf einem Bild sitzt er in einem Boot. „Wir waren Segler“, sagt sie. Darum sei ihr nach dem Unfall im Spätsommer 2020 auch sofort klar gewesen, dass ihr Mann tot ist. Nicht klar war das für die Behörden. Offiziell galt Rolf Schnitzer als verschollen.

Bis ein Verschollener für tot erklärt wird, dauert es in der Regel zehn Jahre. Bei so genannter Gefahrenverschollenheit, zum Beispiel bei Schiffs- oder Flugzeugunglücken, ist diese Frist kürzer. Im Fall von Rolf Schnitzer, der auf einem Binnensee verschwand, betrug sie ein Jahr. Dies wurde Christina Schnitzer zum Verhängnis.

Rolf Schnitzer kehrt nicht nach Hause zurück

An den Tag des Unfalls erinnert sie sich noch genau. Es war der 19. August 2020, ihr Mann war spät dran. „Ich habe ihm gesagt, dass er sich beeilen soll, damit er nicht wieder der Letzte ist.“ Noch heute sieht sie ihn davon radeln. Nach Hause zurück kehrte er nicht mehr. An seiner Stelle stand am Abend die Polizei vor der Tür. Die Beamten sprachen von einem schrecklichen Unfall. Und davon, dass Rolf Schnitzer bei diesem Unfall verschwunden sei.

Was genau auf dem Motorboot passiert war, das konnte die Polizei erst in den Tagen darauf rekonstruieren. „Es war ein großes Chaos“, sagt Charlie Maier. Der Langenargener war damals mit auf dem Schiff. Er war es, der den Notruf gewählt hat.

Suche
Suche (Foto: Christian Flemming)

Dabei sah anfangs alles danach aus, als würde es ein perfekter Tag werden. „Die Stimmung an Bord war toll“, erinnert sich Charlie Maier. Der Bootsführer habe auf dem Akkordeon musiziert. „Wir haben gesungen und viel gelacht.“ Ein Gläschen Sekt gab es auch, die Männer teilten sich zu acht eine Flasche. Mehr nicht, betrunken war an dem Tag keiner.

Alle drei Männer bekommen Probleme

In der Reutiner Bucht bei Lindau angekommen, wollten zwei der Männer baden. Rolf Schnitzer war einer von ihnen. Im Wasser geriet der andere Mann aber plötzlich in Not. Er schien unterzugehen. Rolf Schnitzer eilte seinem Freund zur Hilfe. Auch der Bootsführer sprang zur Rettung ins Wasser.

Doch dann bekamen plötzlich auch Rolf Schnitzer und der Bootsführer Probleme mit der Gesundheit. Alle drei Männer im Wasser drohten zu ertrinken. Die restlichen fünf Rentner um Charlie Maier schafften es schließlich, den anderen Mann und den Bootsführer zurück aufs Schiff zu ziehen.

Rolf Schnitzer ging währenddessen einfach unter. „Ich kann es nicht anders erklären, als dass das ein schrecklicher Zufall ist, dass drei Männer im Wasser sind und alle gesundheitliche Probleme bekommen“, sagt Charlie Maier. Während er spricht, schießen ihm Tränen in die Augen.

Der Bootsführer war bewusstlos. Ein Segellehrer aus Österreich kam der Männergruppe schließlich zur Hilfe. Er versuchte, den Bootsführer zu reanimieren und steuerte das Motorboot ans Ufer. „Wir waren ja alles Laien“, sagt Charlie Maier. Rolf Schnitzer lag zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon auf dem Grund des Bodensees . Er war kein Laie, hatte nicht nur den Segelschein, sondern auch einen Motorbootführerschein. „Er hätte gewusst, was zu tun ist“, sagt Christina Schnitzer. Sie ringt um Fassung. „Er wollte doch nur helfen.“

Mehr als hundert Einsatzkräfte an Suche beteiligt

Mehr als hundert Einsatzkräfte suchten am Tag des Unfalls bis zum Einbruch der Dunkelheit nach ihrem Mann, doch sie fanden ihn nicht. Und auch für den Bootsführer kam die Rettung zu spät. Er starb noch am selben Tag im Krankenhaus.

Die Lindauer Wasserschutzpolizei suchte wochenlang weiter. Mit Tiefensonar und Tauchroboter, später dann, zum ersten Mal überhaupt, sogar mit Leichenspürhunden. „Damit die Angehörigen abschließen können“, sagte Wapo-Chef Klaus Achtelstetter damals. Doch die Polizisten fanden Rolf Schnitzer nicht. Der Bodensee ist an dieser Stelle bis zu 40 Meter tief.

 Klaus Achtelstetter, Leiter der Lindauer Wasserschutzpolizei.
Klaus Achtelstetter, Leiter der Lindauer Wasserschutzpolizei. (Foto: Barbara Baur/Schwäbische.de)

Klaus Achtelstetter und seine Kollegen taten, was ihnen übrig blieb: Sie ermöglichten Christina Schnitzer, ihrem Sohn und Verwandten, Abschied zu nehmen. Mit dem Polizeiboot brachten sie die Familie zu der Stelle, an der Rolf Schnitzer untergegangen war. Charlie Maier und die anderen Überlebenden des Unglücks warteten am Ufer. Auch von diesem Tag gibt es Fotos, Christina Schnitzer hat sie in ein Album geklebt. „Die Zeremonie war schön“, sagt sie.

Trauerfeier ist psychologisch sinnvoll

Und sie war wichtig, wie der Psychiater Sascha Hunner, Chefarzt der Panorama Fachklinik Scheidegg, erklärt. „Bei einem solchen Ritual geht es darum, einen Konsens darüber zu finden, dass jemand tot ist.“

Allzu oft seien Menschen, deren Familienmitglieder verschwunden sind, in einem Dilemma. „Wer in einem uneindeutigen Verlust ist, traut sich oft nicht, zu trauern“, erklärt er. „Diese Menschen fragen sich, was ihr Angehöriger davon halten würde, dass sie ihn aufgeben.“

Dabei sei trauern genauso legitim wie hoffen. Eine Funktion der Trauer sei es, sich mit einer neuen Realität auseinanderzusetzen. „Menschen, die immer wieder hoffen, leiden eher länger.“

Bei Christina Schnitzer war es nicht die eigene Hoffnung, die den Trauerprozess unterbrach. Sie hatte nie Zweifel, dass ihr Mann bei dem Unfall gestorben ist, sagt sie. „Es gab doch Zeugen.“ Was ihr zusätzlich zum Schmerz über den Verlust ihres Mannes zu schaffen machte, waren die endlosen Diskussionen mit den Behörden. Ständig sollte sie belegen, was sie nicht belegen konnte: den Tod ihres Mannes.

 Christian Müller bei der Arbeit mit seinem Tiefensonar auf dem Bodensee.
Christian Müller bei der Arbeit mit seinem Tiefensonar auf dem Bodensee. (Foto: Müller/Einfeldt/Schwäbische.de)
 Christian Müller hat ein Tiefensonar, das dem der Polizei weit überlegen ist.
Christian Müller hat ein Tiefensonar, das dem der Polizei weit überlegen ist. (Foto: Christian Flemming/Schwäbische.de)
 Kai Einfeldt mit Hündin Nala bei der Suche auf dem Bodensee.
Kai Einfeldt mit Hündin Nala bei der Suche auf dem Bodensee. (Foto: Müller/Einfeldt/Schwäbische.de)

„Mein Mann hatte eine private Krankenversicherung, die mussten wir anfangs weiterzahlen“, sagt sie. Hinterbliebenenrente bekam sie nicht. Dafür eine Rechnung der österreichischen Wasserschutzpolizei für die Suche nach ihrem Mann auf dem Bodensee. Während sie trauerte, begann ein Papierkrieg, der Aktenordner füllt.

Geholfen, sagt sie, habe ihr keiner. „Egal, wo ich angerufen habe, keiner hatte Informationen, keiner wusste, was in so einem Fall zu tun ist.“ Auch seelische Unterstützung hätte sie gebraucht. „Mein Arzt hat mir eine ganze Liste mit Psychologen gegeben, ich habe sie durch telefoniert.“ Doch freie Termine gab es nicht. „Sie litt eher an der Wut als an der Unsicherheit“, sagt Psychiater Sascha Hunner. „Das ist sehr belastend.“

Fall geht der Polizei nahe

Diese Belastung bekommt auch das Team um Klaus Achtelstetter mit. „Der Fall ging uns schon sehr nah“, sagt der Polizist. Er versprach Christina Schnitzer, noch nicht aufzugeben.

Die Möglichkeiten der Lindauer Wapo sind erschöpft. Doch es gibt einen Mann, der vielleicht noch helfen kann: der Münchner Christian Müller. In Polizeikreisen gilt Müller seit vielen Jahren als Koryphäe bei der Suche von Vermissten auf See. 16 Menschen, die die Polizei nicht finden konnte, hat er mit seiner Firma „Tauchdienste“ bereits entdeckt.

 Hündin Nala schlägt als erste an.
Hündin Nala schlägt als erste an. (Foto: Müller/Einfeldt/Schwäbische.de)

Zu seinem Beruf gekommen ist der gelernte Sozialpädagoge, nachdem 2001 ein Mann im Ammersee verschwunden war. Er habe sich damals vorgestellt, wie schrecklich das für dessen Familie sein muss. Müller, der damals schon einen Tauchschein hatte, begann zu suchen. Zehn Jahre und viele Tauchgänge später fand er die Leiche.

„Angehörige, denen so etwas passiert, fallen komplett durchs Raster“, sagt Christian Müller. Wenn die Polizei die Suche einstelle, seien sie meist komplett auf sich allein gestellt. Viele steckten dann in einer Art Vakuum fest, verneinten den Tod des geliebten Menschen. Oft so lange, bis die Leiche schließlich gefunden würde. „Man kann einem Trauernden nicht zumuten, eine geliebte Person, die verschwunden ist, einfach aufzugeben.“ Mittlerweile hat er sich zudem zum Heilpraktiker für Psychotherapie weiterbilden lassen. Manche Angehörige betreut er bis heute.

Privat sind spezielle Suchen teuer

Christian Müller hat ein Tiefensonar, das dem der Polizei technisch weit überlegen ist. Er bildet Polizisten für die Suche unter Wasser aus, gibt regelmäßig Lehrgänge. An einem dieser Lehrgänge nimmt auch Klaus Achtelstetter teil, er schildert ihm den Fall Rolf Schnitzer.

Manchmal wird Christian Müllers Firma von der Staatsanwaltschaft beauftragt. Zum Beispiel wenn der Verdacht besteht, dass ein Verschollener einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Bei Rolf Schnitzer glaubt keiner, dass es ein Verbrechen gab. Doch privat sind solche Einsätze teuer. Allerdings hat die Lindauer Wapo einen neuen Tauchroboter, in dessen Technik sich die Beamten einarbeiten müssen.

Gemeinsam mit der Firma „Tauchdienste“ konzipieren sie eine Übung in dem Gebiet, in dem Rolf Schnitzer ein Jahr zuvor verschwunden ist. Zu diesem Zeitpunkt weiß Christian Müller noch nicht, dass dies die Übung seines Lebens wird. Denn am Ende wird es nicht sein Sonargerät sein, das Rolf Schnitzer findet.

Zu all den schlimmen und guten Zufällen, die diesen Fall ausmachen, kommt nun ein weiterer dazu. Nur wenige Wochen zuvor hat Christian Müller den Leiter der Rettungshundestaffel Alpenvorland kennengelernt: Kai Einfeldt. Wie Müller ist auch Einfeldt mit seinem Team auf die Suche von verschwundenen Menschen spezialisiert. Doch während Müller mit seinem Sonar hauptsächlich nach Wasserleichen sucht, sind Einfeldts Hunde so genannte Mantrailer, sie suchen nach lebenden Vermissten.

Die beiden taten sich zusammen. „Man sagt, eine Leiche behält etwa 24 Stunden lang ihren Individualgeruch“, erklärt Kai Einfeldt. Ein erster Versuch am Ammersee glückte: Sonar und Hunde orteten gemeinsam einen Mann, der wenige Stunden zuvor ertrunken war.

Mantrailer werden auf dem Bodensee eingesetzt

Die beiden beschließen, die Hunde auch bei der Übung auf dem Bodensee einzusetzen. Entgegen der gängigen Theorie, dass Rolf Schnitzers Leichnam längst keinen Eigengeruch mehr haben dürfte.

Dafür brauchen die Hunde eine Geruchsprobe. Für Christina Schnitzer klingt die Anfrage zunächst völlig absurd. „Natürlich hatte ich noch Kleidung von meinem Mann“, sagt sie, „aber das war ja längst alles gewaschen.“ Doch es findet sich noch ein Geruchsträger: Hausschuhe, die in einer Schachtel aufbewahrt waren.

Als wir aufs Wasser gefahren sind, wollten wir im Vorfeld überhaupt nicht wissen, wo die Polizei vermutet, dass der Mann untergegangen ist.

Kai Einfeldt, Leiter der Rettungshundestaffel Alpenvorland

Ende August 2021, fast auf den Tag genau ein Jahr nach Rolf Schnitzers Verschwinden, startet die Suche erneut. „Als wir aufs Wasser gefahren sind, wollten wir im Vorfeld überhaupt nicht wissen, wo die Polizei vermutet, dass der Mann untergegangen ist“, sagt Kai Einfeldt. Stück für Stück tastet Christian Müller mit seinem Team die Reutiner Bucht mit seinem speziellen Rund-um-Tiefensonar ab. „Der eine Top-Punkt war aber leider nicht dabei“, sagt er. Gleichzeitig schlägt Hündin Nala mehrmals an.

Eineinhalb Tage dauert das Auswerten der Sonarbilder, danach schaut sich das Team vier Punkte mit dem Tauchroboter noch einmal genauer an. Kein Rolf Schnitzer. Doch nun schlägt auch der zweite Hund, Carlos, an – im gleichen Bereich wie zuvor Hündin Nala. „Da der Wind aus einer anderen Richtung als beim ersten Hund kam, konnten wir eine Kreuzpeilung vornehmen“, erklärt Christian Müller. Die Teams berechnen den Schnittpunkt und schicken den Tauchroboter noch einmal in Richtung Seegrund. Dort liegt Rolf Schnitzer. Mithilfe des Roboters wird er geborgen.

Polizei steht das zweite Mal vor der Tür

Wieder klingelt die Polizei an Christina Schnitzers Haustür. „Ich bin sehr erschrocken“, erzählt sie. Denn ihr Sohn hatte nur eine Viertelstunde zuvor das Haus verlassen. „Das war ein Schock. Ich dachte, es wäre schon wieder etwas passiert.“

Heute ist sie froh, dass ihr Mann gefunden wurde. Nicht wegen des Totenscheins für die Behörden, denn den hätte sie nach einem Jahr ja ohnehin bekommen. Und ihr ganz persönlicher Abschied, das sagt Christina Schnitzer bis heute, war vor mehr als einem Jahr die Trauerfeier auf dem Bodensee. Doch jetzt kann sie ihren Mann beerdigen. Die Zeremonie erfolgt im engsten Familienkreis.

Das hat vorher noch keiner probiert, weil alle gesagt haben, dass das nicht möglich ist.

Kai Einfeldt, Leiter der Rettungshundestaffel Alpenvorland

Der Anblick des Toten könne für manche eine Hilfe sein, dessen Tod voll und ganz zu akzeptieren, sagt Psychiater Sascha Hunner. Das bedeute aber nicht, dass der Trauerprozess damit von vorn losgeht. „Die Verschaltung im Gehirn war ja schon da, die Prozesse haben längst eingesetzt.“ Christian Müller beobachtet bei seiner Arbeit oft, dass der Fund von Vermissten auf die Angehörigen wie eine Erlösung wirkt.

Dass sein Freund am Ende doch noch entdeckt wurde – „Für mich ist das eine Sensation“, sagt Charlie Maier. Und das ist es wohl tatsächlich. „Das hat vorher noch keiner probiert, weil alle gesagt haben, dass das nicht möglich ist“, erklärt Kai Einfeldt. Hunde seien normalerweise nun einmal entweder auf lebende Vermisste oder auf Leichen spezialisiert. „Unsere konnten es kombinieren.“ Wie genau das funktioniert hat, das wollen Müller und Einfeldt mit ihren Teams jetzt weiter erforschen. Christian Müller hat jetzt sogar einen eigenen Hund, mit dem er trainiert.

Christina Schnitzer hat das Team um Christian Müller und Kai Einfeldt mittlerweile kennengelernt – inklusive der beiden Hunde, die ihren Mann gefunden haben. Ganz besondere Tiere seien das gewesen, sagt sie, und fängt plötzlich an zu lächeln. Als Dankeschön hat sie den beiden eine große Tüte voller Leckerlis geschenkt. Und sie hat Fotos vom ganzen Team gemacht. Die klebt sie ans Ende ihres Fotoalbums.