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Flüchtlingscamp

„Helfen bringt Freude“: Hassan und seine Familie brauchen Hilfe

Lindau / Lesedauer: 6 min

Aus der Gefangenschaft der Terrormiliz entkommen – „Helfen bringt Freude“ sammelt Spenden
Veröffentlicht:20.11.2020, 15:01

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Delvin und ihre fünf Kinder haben es gewagt: Nach Jahren im Flüchtlingscamp Sheikhan im Nordirak hat die junge Frau, die der Krieg früh zur Witwe gemacht hat, beschlossen, in ihre Heimat im Shingal-Gebirge zurückzukehren. Die Sicherheitslage dort hat sich in den vergangenen Monaten verändert: zum Guten.

In dem Dorf Tel Qasab will sie den Neuanfang schaffen – und braucht Hilfe: „Im Camp Sheikhan hat die Familie stark von der Unterstützung durch Euch profitiert, helft ihr bitte auch weiter“ appelliert Amer Abo, der Leiter des Camps Sheikhan, an die Hilfsbereitschaft der Leserinnen und Leser der „ Schwäbischen Zeitung “. Abo hat sich bisher intensiv um die Familie gekümmert.

Mutige Menschen wie Delvin brauchen uns.

, Irak-Beauftragter der Caritas-Flüchtlingshilfe Thomas Shairzid

Wie man der Frau und den Kindern helfen kann? „Sie würden sich sehr freuen, wenn man den zerstörten Wasserbrunnen reparieren würde, oder über ein Gewächshaus. Und über Kleidung und Schulmaterial für die Kinder. Sie haben nichts.“

Das Haus der Familie ist zerstört

Die Familie wohnt jetzt im Haus eines Onkels, der sie aufgenommen hat. Das eigene Haus ist zerstört, all die landwirtschaftlichen Gerätschaften sind gestohlen worden. Bislang sind etwa 1000 der früher 18.000 Einwohner Tel Qasabs zurückgekehrt. Sie alle stehen vor einer ungewissen Zukunft. Delvin aber will neu anfangen.

Die Weihnachtsspendenaktion „Helfen bringt Freude“, die ab Samstag und bis Anfang Januar zum achten Mal um Spenden bittet, nimmt Menschen wie Delvin und ihre vier Kinder in den Blick, kann ihnen konkret helfen und damit Fluchtursachen bekämpfen.

,Schwester Anna-Luisa Kotz, Missionsprokuratorin vom Kloster Untermarchtal, engagiert sich in einem Gleichstellungsprojekt in Äthiopien. Im Interview erklärt sie, wie Spenden der Leser der „Schwäbische Zeitung“ dabei helfen können. Jetzt lesen:

Seit 2016 hat „Helfen bringt Freude“ im Nordirak vor allem in den beiden Camps Mam Rashan und Sheikhan, in den christlich geprägten Orten Karakosch und Telskuf in der Ninive-Ebene und im von syrischen Flüchtlingen bewohnten Camp Bardarash Unterstützung geleistet.

Über die Caritas-Flüchtlingshilfe Essen und deren Partner vor Ort fließen die Spendengelder in den Nordirak: „Und nun geht es darum, sowohl den Menschen in den Camps als auch denen, die aus den Camps in ihre Heimat zurückkehren, zu helfen“, bittet Thomas Shairzid, Irak-Beauftragter der Caritas-Flüchtlingshilfe Essen: „Mutige Menschen wie Delvin brauchen uns.“

Hassan wird in eine jesidische Familie hineingeboren

Zur Familie Delvins gehört Hassan, der heute acht Jahre alt ist. Er wird Anfang Februar 2012 in Tel Qasab geboren, einem Retortendorf aus der Zeit des irakischen Diktators Saddam Hussein.

Als Hassan zur Welt kommt, leben rund 18.000 Menschen in der Siedlung am südlichen Fuß des Shingal-Gebirgszuges nahe der syrischen Grenze. Sie alle sind Jesiden, Angehörige einer religiösen Minderheit, die traditionell von der mehrheitlich muslimischen Bevölkerung des Irak mit Argwohn betrachtet wird. Die Jesiden, heißt es, seien Teufelsanbeter.

Wie die meisten Menschen in Tel Qasab arbeitet Hassans Vater als Bauer, er bewirtschaftet neun Hektar Land, ein ansehnlicher Besitz. Hussein Salah ist mit Delvin verheiratet, neben Hassan haben sie fünf weitere Kinder.

Der „Islamische Staat“ zwingt die Familie zur Flucht

Am 3. August 2014 zerbricht ihre heile Welt. Die Fanatiker der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) überrollen die Region, ermorden Tausende Menschen. Hunderttausende Jesiden fliehen, auch Hussein Salah versucht seine Familie in Sicherheit zu bringen. Sie werden gefasst, Hussein wird von seiner Familie getrennt und verschwindet spurlos. Seine Frau und seine Kinder werden nach Syrien verschleppt. Was dort mit ihnen geschieht, ist von der kurdischen Regionalregierung in Teilen rekonstruiert worden.

Hassan, damals zweieinhalb Jahre alt, wird einem IS-Ehepaar übergeben, das keine Kinder bekommen kann. Seine Geschwister und seine Mutter bleiben zusammen, Delvin muss den Fanatikern als Sklavin dienen, wie so viele andere jesidische Frauen.

In der Schlacht um Rakka stirbt irgendwann im Herbst 2017 der IS-Kämpfer, der Hassan aufgenommen hat, seine Frau flieht und lässt den kleinen Jungen allein zurück. Er lebt monatelang auf der Straße.

Hassan und seine Familie lebten am südlichen Fuß des Shingal-Gebirgszuges nahe der syrischen Grenze, bis der IS sie von dort vertrieb. Im Camp Sheikan haben sie Zuflucht gefunden.

Irgendwann erbarmen sich Menschen seiner und suchen in den sozialen Netzwerken nach seiner Familie. Seine Großmutter Wansi Khalat stößt im August 2018 auf sein Bild, sie erkennt ihren Enkel. Auch die damals 53-Jährige wurde kurz zuvor aus der Gefangenschaft des IS befreit. Im Flüchtlingscamp Sheikhan kommen die beiden wieder zusammen.

Traumatische Erfahrungen

Hassan ist zutiefst traumatisiert, aggressiv, psychisch auffällig. Er schlägt nach anderen Kindern, sie weichen ihm aus, schauen ihn verstört an. Er spricht ihre Sprache nicht, er hat seine Muttersprache in den vier Jahren, in denen er in der Gefangenschaft des IS war, verlernt. Wansi Khalat lächelt entschuldigend, hebt hilflos die Schultern. Sie weiß nicht, wie sie mit ihrem Enkel umgehen soll.

Mitte April 2019 kommt schließlich Delvin frei. Ihr ältester Sohn Issam ist bei der Schlacht um Baghuz mit gerade einmal zwölf Jahren getötet worden, die anderen Kinder haben überlebt. Über das, was ihr in der Gefangenschaft widerfahren ist, spricht Delvin bei einem Besuch im Camp Sheikhan im Oktober 2019 nicht. Sie schämt sich. Die Familie lebt in nur einem Zelt, Hassan geht zur Schule, lernt wieder Kurdisch.

Die Familie braucht Unterstützung

Hassans Schicksal ist typisch für die Geschichte Tausender Kinder, die in der fiebrigen, alptraumhaften Zeit der Herrschaft des „Islamischen Staats“ entführt wurden und nun wieder zurück bei ihren Familien sind. Dass sie professionelle therapeutische Hilfe benötigen, die über „Helfen bringt Freude“ organisiert und finanziert wird, steht außer Frage.

Doch dabei kann es nicht bleiben: „Für diese Menschen, vor allem für Frauen und Kinder, brauchen wir auch weiterhin Geld“, bittet Thomas Shairzid um Spenden. Denn Familien, die in ihre Heimat im Shingal-Gebirge zurückkehren, benötigen eine Grundausstattung, um arbeiten und leben zu können: „Wir haben sehr gute Erfahrungen mit Gewächshäusern gemacht, in denen die Jesiden Gurken oder Okraschoten anbauen können“, sagt Shairzid.

 Mutter Delvin und ihre fünf Kinder, darunter Hassan (Zweiter von rechts).

Jesidische Frauen betreiben traditionell Geflügelzucht: „Mit einem Hühnerstall und einigen Hennen sowie einem Hahn können Sie einer Witwe wie Devin wirklich weiterhelfen.“ Hinzu kommen Wasserbehälter, Winterkleidung und Schulmaterial: „Diese praktischen Dinge sichern Überleben und Bildung.“

Für die Menschen, die in den Camps bleiben oder neu dorthin kommen, stehen weiterhin Arbeitsplätze und Aus- und Schulbildung ganz oben. Auch hier ein praktisches Beispiel: „Wir würden gerne im Camp Sheikhan eine zweite Bäckerei bauen und dort junge Frauen, die aus der IS-Gefangenschaft fliehen konnten, ausbilden“, beschreibt Shairzid das Ziel, „so bekommen diese ehemaligen IS-Opfer eine Perspektive für ihr Leben.“