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Segelfreizeit

Drei Tage, um anders zu sehen

Lindau / Lesedauer: 5 min

Bei der Segelfreizeit des Vereins Schiffer Gilde erfahren Kinder, Jugendliche und Betreuer, dass Inklusion gelingen kann
Veröffentlicht:14.08.2018, 19:00

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Geistig behinderte und nicht behinderte Kinder und Jugendliche sind am Wochenende gemeinsam über den Bodensee gesegelt. Unabhängig von ihrer familiären Herkunft und finanziellen Situation begegneten sie sich im Rahmen der Segelfreizeit des Vereins Schiffer Gilde. Im Team lernten die Kinder und Jugendlichen dabei nicht nur ihre eigenen Stärken und Schwächen kennen, sondern auch die der anderen.

Die zwei hohen, grauen Masten auf dem Segelschiff „Zuversicht“ wiegen im Takt der dunkelblauen Wellen hin und her, als erste Anweisungen von Bastian Rieß , dem Kapitän des Segelschiffes, erklingen. „Wer setzt das Besansegel?“, ruft er. Cleo Lanz und Pascal Brög knien bereits davor. Während Pascal mit beiden Händen fest am gelben Seil zieht, um das Segel zu setzten, sichert Cleo von unten, damit es nicht zurückfällt. „Besansegel Check!“, rufen beide wenige Sekunden später, legen den Kopf in den Nacken und blinzeln Richtung Himmel, wo das weiße Segel aufgespannt über ihnen weht. „Normalerweise bin ich gar nicht teamfähig, aber hier kann ich das irgendwie“, sagt Pascal. Neben ihm werfen kleine und große Hände leuchtende, orange Schwimmwesten auf einen Haufen, holen die dunkelblauen Fender an Bord und Rieß lenkt das Schiff durch die glitzernde Oberfläche des Bodensees. Pascals dunkelbraune Augen weiten sich und er lächelt, als er erzählt, wie viel Spaß ihm das Segeln macht. „Ich finde es toll, dass das Schiff wackelt und man das Gleichgewicht halten muss. Auch die Aussicht und den Wind auf der Haut finde ich richtig schön“, sagt der 17- Jährige.

Der Verein Schiffer Gilde bietet bereits seit 1979 inklusive Segelfreizeiten an. Seit einem Jahr können sich Kinder und Jugendliche auch im Rahmen des Ferienprogramms vom Kreisjugendring Lindau für ein solches Segelwochenende anmelden. Das Programm ist sowohl für behinderte und nichtbehinderte Kinder und Jugendliche, als auch für jene aus familiär oder finanziell schwierigen Verhältnissen offen.

„Anders sehen“ lautete das Motto der Freizeit, „auch sich selbst mit den eigenen Fähigkeiten“, meint Rieß. „Das Boot funktioniert nur als Team, und jeder erhält seine eigene Aufgabe“, erklärt er. Die neun Kinder und Jugendlichen segeln an diesem Tag die zweistündige Tour von Bregenz nach Hard. „An Bord findet jeder seine Stärken und Schwächen heraus. Einige können zum Beispiel schneller reagieren, andere sind stärker oder haben weniger Angst“, erklärt Rieß die wichtigsten Ziele der Segelfreizeit. „Hier bekommen die Kinder das Gefühl, dass jeder von ihnen einen Beitrag leisten kann.“

An den bunten T-Shirts der Kinder, die mit den großen Segeln über ihnen im Fahrtwind flattern, sind Namensschilder befestigt. Im Hintergrund ist ein Bild der „Zuversicht“ zu sehen, in schwarzen Druckbuchstaben sind darüber die Namen geschrieben. Pascal hat diese schon im Vorfeld für alle gebastelt. „Ich habe mich schon sehr darauf gefreut. Bisher war ich immer nur im Wasser, aber noch nie darauf“, sagt er. Deshalb hört er an Bord auch aufmerksam auf die Anweisungen von Rieß und lässt sich von der Praktikantin Hannah Penningbernd immer wieder zeigen, wie man Seemannsknoten bindet.

Als die Kinder nach dem Mit- tagessen an Land mit bunten Golfbällen auf dem Platz Minigolf spielen, ist es aber Pascal, der am Rand der Spielbahnen auf und ab läuft und die Finger in Zeitlupe an den Golfschläger legt, um seinen Mitspielern die richtige Halteposition zu erklären. „Ah fast, super! Nächstes Mal schaffst du es“, ruft er auch der Praktikantin Hannah zu, die während der 14 gespielten Bahnen kaum einen Ball in das Loch befördern konnte.

Als sich alle Teams vor dem Hafen in Hard versammeln, um vor der Rückfahrt den Gewinner des Minnigolfspiels zu küren, hält Pascal den Zettel seinen Teammitgliedern entgegen. „Ich habe Dyskalkulie und ein Kurzzeitgedächtnis, ich kann die Punkte nicht zusammenzählen“, sagt er. Da nimmt ihm auch schon ein anderer Junge aus dem Team den Bleistift aus der Hand und rechnet die Ergebnisse aus.

„Wir versuchen hier zu niemanden zu sagen, welche Behinderung ein Gruppenmitglied hat und dass dieser deshalb Hilfe benötigt. Die Kinder sollen von selbst auf die Idee kommen, sich gegenseitig zu unterstützen“, erklärt Rieß. Eigentlich arbeitet er an der Universität in Oldenburg als Dozent für Sonderpädagogik, aber jeden Sommer kommt er nach Bregenz, um ehrenamtlich bei den Aktionen der Schiffer Gilde mitzuhelfen. „In der Uni machen wir uns immer wahnsinnig viele Gedanken darüber, wie Inklusion funktionieren kann, aber hier sieht man einfach: es funktioniert“, stellt Rieß fest.

Während die „Zuversicht“ den Hafen wieder verlässt, um zurück nach Bregenz zu fahren, schaut Rieß auf den See hinaus. Der Wind hat nachgelassen, sodass mit dem Motor nachgeholfen werden muss. „Wer will steuern?“, fragt Rieß. Pascal meldet sich, balanciert in einem der schmalen Gänge nach vorne, setzt sich an das Heck des Schiffes und legt seine Hand an die Pinne. Neben ihm lässt sich Hannah nieder: „Ich glaub an dich“, sagt sie, „du glaubst auch immer so schön an mich“.