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Klassenzimmer

Deutsches Recht zum Eingewöhnen

Lindau / Lesedauer: 6 min

Bei Rechtskurs für Flüchtlinge prallen Welten aufeinander: Staatliche Gesetze sind für viele neu
Veröffentlicht:20.02.2018, 13:57

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Ein Klassenzimmer im ersten Stock der Lindauer Berufsschule: Jugendliche wuseln durch den Raum, reden miteinander, suchen sich einen Platz. Gespannt warten sie darauf, was auf sie zu kommt. Denn die 15 Jugendlichen erhalten zum ersten Mal einen Einblick in das deutsche Rechtssystem. Die meisten von ihnen sind aus Somalia geflüchtet, erst seit wenigen Monaten im Land und sprechen kaum Deutsch.

Dolmetscher Adifatah Abdikarim übersetzt daher jedes Wort, dass Carina König sagt. Die Richterin des Amtsgerichts Lindau hält zum ersten Mal den Kurs Rechtsbelehrung für Flüchtlinge. Den Kurs hat das Bayerische Justizministerium vor etwas mehr als zwei Jahren landesweit eingeführt. Beim Landgericht Kempten hat Vizepräsident Alfred Reichert den Plan umgesetzt, er erklärt: „Es ist wichtig, dass die Asylbewerber direkt unsere freiheitliche Demokratie kennen lernen, da es in vielen anderen Ländern ganz anders aussieht.“ Beispielsweise sollen die Kurse vermitteln, dass in Deutschland Mann und Frau gleichberechtigt sind, worauf bei Verträgen zu achten ist und einen Einblick ins Strafrecht geben.

„Weiß jemand, was Demokratie bedeutet?“, fragt Richterin König zu Beginn des Unterrichts. Ihre Schüler sitzen mit ihr in einem Stuhlkreis, noch eher zurückhaltend. Dann meldet sich der erste zaghaft und antwortet auf Somali. Abdikarim übersetzt: „Er sagt, Demokratie heißt gleich sein und Gerechtigkeit.“ König nickt und lobt den jungen Mann, dann erklärt sie: „Die Definition von Demokratie ist, die Herrschaft geht vom Volk aus.“ Nach der Übersetzung geht ein Raunen durch den Raum, Blicke werden gewechselt. Carina König setzt neu an: „Das ist in unserer Verfassung niedergelegt: Wir wählen Abgeordnete in allgemeinen Wahlen, das ist die Willensbildung nach oben.“ Demokratie bedeute aber nicht, dass man machen könne, was man wolle. Jeder müsse einen Beitrag leisten, wobei die Bundesregierung die Richtung vorgebe.

König will mit einem Praxisbeispiel das demokratische System verdeutlichen: Die Kursteilnehmer sollen abstimmen, ob sie während des dreistündigen Unterrichts lieber ein Mal für zehn Minuten Pause machen möchten, oder zwei Mal für fünf Minuten. Zuerst herrscht Verwirrung. Abdikarim übersetzt mehrfach die Aufgabe: Dann melden sich die meisten Schüler für die lange Pause. „Wer hat sich für zwei Mal fünf Minuten gemeldet?“, fragt König. Einige Jugendliche deuten auf einen jungen Mann: „In der Demokratie müssen sich die wenigen den vielen unterordnen“, erklärt König. „Also machen wir einmal zehn Minuten Pause.“ Der Schüler verzieht überrascht das Gesicht. Einige lachen über seine Reaktion.

Beim Vertragsrecht hören die Jugendlichen aufmerksam zu und fragen oft nach. Viele wussten nicht, dass sich ihr Handyvertrag automatisch verlängert, wenn sie ihn nicht fristgerecht kündigen. „Damit ich das nicht vergesse, kündige ich meinen Handyvertrag immer schon, sobald ich ihn abschließe“, rät König. Die Jugendlichen wollen wissen, wo die Verlängerung im Vertrag steht. „Das steht im Kleingedruckten was niemand liest“, erklärt König. Eine junge Frau sagt, dass klinge wie zwei Verträge in einem - eigentlich unfair.

Ganz ruhig ist die Klasse, als König dann das Eherecht erklärt. Auch die Ehe sei ein Vertragsschluss, bei dem beide Partner eine Urkunde unterschreiben. Deshalb müsse man zum Standesamt gehen. Nur zum Imam zu gehen, reiche nicht aus.

Viele in der Klasse lachen ungläubig als König erklärt, dass es seit 2017 in Deutschland die Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare gibt. Ein paar junge Männer finden es bedauerlich, dass ein Mann in Deutschland nur eine Frau heiraten darf und nicht mehrere.

„Nur nach einer Scheidung darf wieder geheiratet werden“, sagt König und erklärt, wie eine Scheidung funktioniert und was danach passiert. Die Kursteilnehmer sind inzwischen ganz offen und neugierig. Sie wollen alles mögliche über Sorgerecht und Unterhaltspflichten wissen. „Darf ich alleine Entscheiden, ob ich mit meinem Kind umziehe?“, will eine junge Frau wissen. „Wenn ich mehr Geld verdiene, muss ich meinem Mann auch Unterhalt zahlen, wenn er faul ist?“, fragt eine andere. „Muss ich auch Unterhalt zahlen, wenn sie geht, weil sie mich nicht mehr liebt?“, fragt ein junger Mann.

Jugendliche brauchen Zeit um System zu begreifen

Nach drei Stunden Rechtskurs wirken die Jugendlichen müde. Einige hängen vornübergebeugt auf ihrem Schoß und stützen ihre Köpfe auf den Händen ab. An einem anderen Tag sollen sie in weiteren drei Stunden beispielsweise etwas über das Strafrecht lernen. Der Dolmetscher Adifatah Abdikarim hat schon viele Kurse zum deutschen Recht miterlebt. Seit rund drei Jahren übersetzt der Somalier freiberuflich von Somali auf Deutsch und umgekehrt – auch in Rechtskursen. Auf die Frage, ob die Jugendlichen die Inhalte verstehen würden, antwortet er prompt: „Wirklich nicht.“ Erst wenn sie das Gehörte in der Praxis erleben würden, könnten sie es verstehen.

Der Übersetzer ist vor einigen Jahren selbst als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Jetzt ist er Mittler zwischen den Kulturen. Er erklärt, warum das deutsche System für Somalier so schwer verständlich sei: „In Somalia gibt es keine Verfassung – und seit mehr als 20 Jahren keine Zentralregierung.“ Stattdessen würden die Clans unter sich Straf- sowie Zivilrecht regeln: Zwei Clans treffen sich und verhandeln beispielsweise darüber, wie hoch die Entschädigung für eine Straftat an einem Mitglied des anderen Clans sein muss. Gezahlt werde mit Kamelen. Abdikarim schätzt, ein Somalier brauche etwa fünf Jahre, um das deutsche System zu verstehen. Umso wichtiger sei es, direkt damit anzufangen ein Bewusstsein für das System zu entwickeln.

Deutscher Rechtsapparat macht vielen Angst

Der Kurs soll vor allem bewusst machen, dass es in Deutschland ein staatliches Rechtssystem gibt: Der Bereichsleiter der Berufsintegrationsklassen Walter Mörtel sagt: „Die Fortbildung von sechs Stunden Umfang kann dabei nur ein Anfang sein.“ Da das staatliche Rechtssystem Menschen aus Kriegsländern oft unbekannt sei, würden sie sich oft nicht trauen, die Polizei einzuschalten oder vor Gericht zu gehen. Denn in der Stammeskultur habe oft der Älteste das Sagen und Konflikte würden unter sich gelöst. „Durch den Kurs sollen die Menschen lernen, wie man Konflikte hier löst.“ Das Ziel sei, dass sie den Rechtsstaat, die Abläufe und die Konsequenzen für Straftaten kennen lernen. Richterin Carina König könne darüber direkt aufklären und Vertrauen schaffen.