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Kriegsende

Es fiel kein Schuss - Ein Zeitzeuge erinnert sich an das Kriegsende

Ummendorf / Lesedauer: 5 min

Kriegsgefangener René geht Landsleuten entgegen und spricht für die Ummendorfer – Otto Minsch erinnert sich
Veröffentlicht:01.06.2020, 12:08

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Otto Minsch aus Bad Schussenried erinnert sich an das Kriegsende vor 75 Jahren in Ummendorf :

„Annähernd 50 Franzosen waren in Ummendorf gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in Gefangenschaft. Sie wurden größtenteils in der Landwirtschaft , aber auch im Milchwerk und in der Sägerei Himmelsbach beschäftigt. Sie ersetzten überall deutsche Arbeitskräfte, die in den Krieg eingezogen worden waren. Tagsüber aßen, arbeiteten und lebten sie in den Familien, abends mussten sie zurück in ihre Unterkunft, in die Alte Schule. Meine Eltern bewirtschafteten damals in Ummendorf einen größeren Bauernhof.

Auch auf unserem Hof war eine internationale Arbeiterschaft beisammen: Polen, Ukrainer, ein Serbe und ein Franzose.

Meine Mutter hatte bereits den Ersten Weltkrieg in seiner Brutalität erlebt. Alle ihre Brüder waren in den Krieg eingezogen worden, obgleich ihre Mutter Witwe war. Zwei Brüder fielen sehr bald in Frankreich, und mit russischen Gefangenen mussten sie einen großen Bauernhof in Winterreute umtreiben. Im Zweiten Weltkrieg waren ihre beiden ältesten Söhne im Krieg, wovon der jüngere vermisst blieb. Für meine Mutter war der einfache Soldat, ob Kriegsgefangener oder Fremdarbeiter völlig unschuldig und konnte mit ihrer Unterstützung und Zuwendung rechnen.

Als unser erster französischer Kriegsgefangene Emile auf unserem Hof schwer erkrankte und bettlägerig wurde, ließ ihm meine Mutter, obgleich es verboten war, Essen bringen und besorgte ihm Medikamente. Er wurde nach einiger Zeit abgezogen und vom französischen Kriegsgefangenen René ersetzt, mit dem wir uns auch gut verstanden, wenn auch nicht sprachlich.

Die damalige Situation der Menschen zu Kriegsende ist nach 75 Friedensjahren schwer nachzuvollziehen. Fast alle sehnten das Ende dieses Krieges herbei und fürchteten sich gleichzeitig davor, denn niemand wusste, wie es weitergehen würde.

Vom ersten Stock unseres Wohnhauses beobachteten wir den blutroten Nachthimmel der brennenden Städte Friedrichshafen und Ulm. Noch mehr erschütterte der Bombenangriff auf Biberach am 12. April 1945. Von Ummendorf aus beobachteten wir wie die Flugzeuge von Westen kommend sich über Biberach absenkten und mit ihren Bomben Unheil anrichteten.

Am Sonntag, den 22. April 1945 durchfuhren Kolonnen deutscher Wehrmachtsfahrzeuge den Ort. Einheit um Einheit und Fahrzeug um Fahrzeug fuhr Richtung Allgäu. Bereits am Montag hatten sich die Franzosen auf der Bergkante von Rißegg mit Panzern positioniert und schossen auf die flüchtenden Truppen in der Nähe des Jordanbads. Es gab Tote und Verletzte. Unser französischer Kriegsgefangener René war zur Arbeit gar nicht erschienen.

Die Leute versteckten sich in Kellern und Bunkern. Immer wieder waren Granatschüsse von Rißegg aus zu hören. Die Ummendorfer Straßen waren menschenleer, und es herrschte eine geradezu bedrückende Stille. Ein Grollen kündete das Herannahen der Front. Das Haus ließ man offen, und wir stellten auf den Esstisch eine große Schüssel mit Eiern. Bald tauchten die französischen Panzer auf und fuhren die Dorfstraße Richtung Kirche hoch. Sie stießen auf keinen Widerstand im Ort. Es fiel kein Schuss! Nichts wurde zerstört. Nur einer näherte sich den Panzern und das war unser Truthahn, der Rad schlagend zur Straße stolzierte; jedoch hatte damit seine Stunde geschlagen. Den immer wieder zitierten Brief der Wirtstochter Maria Hanni, der besagt, dass in nächster Nähe aus allen Rohren geschossen wurde, muss ich in Frage stellen. Wir wohnten 50 Meter vom Geschehen entfernt.

Von unserem Bunker aus beobachteten wir die von der Bahnhofstraße herrollenden Panzer. Da sich alles so ruhig abspielte, gingen wir ins Haus. Unser Franzose René erschien Freude strahlend an der Haustür und verkündete: „Habt keine Angst, euch passiert nichts.“ Welch eine Erleichterung! Mit einem herzlichen Ade verließ er uns. Sein Wort traf für uns und Ummendorf zu! Auch bei weiteren Bauersfamilien kamen die ehemaligen Gefangenen mit den Besatzungstruppen zurück und beruhigten sie, dass ihnen nichts geschehe.

Erst später erfuhren wir, dass unser französischer Gefangene René mit einem Freund den einmarschierenden Landsleuten entgegen gegangen war und diese gebeten hatte, nicht zu schießen und nichts zu zerstören. Sie seien alle gut behandelt worden.

Ohne besondere Vorkommnisse wurde Ummendorf eingenommen. Es wurde nicht geschossen und nichts zerstört. Nur ein Mann, der den Haltebefehl der Soldaten nicht beachtete, kam ums Leben.

Nun bestimmte die französische Armee das Dorfbild, und sie übernahm das Regiment.

Für die Bevölkerung begann eine bewegte Zeit. Es traf allerdings nicht alle gleich! Von den Franzosen wurde zuerst angeordnet, eine strenge Ausgangsperre ab 17 Uhr , was für die Milchablieferung im Milchwerk ein großes Problem war und Verärgerung schuf. Abgabe von Waffen. Des weiteren wurden Wohnräume beschlagnahmt, Lebensmittel und Kleidung mussten abgeliefert werden. Zu Beginn der Besatzungszeit hatten die Soldaten keine Skrupel, Geflügel und und andere Tiere bei den Bauern aus dem Stall zu holen. Die Forderungen der Armee nahmen in den ersten Monaten kein Ende.

Nicht überall verlief das Kriegsende so friedlich. Die Besatzungszeit brachte auch Leid über die Familien und Orte, besonders in denen, wo sich die französischen Gefangenen ungerecht behandelt gefühlt hatten.

Der Krieg brachte neben dem unsäglichen Leid die Begegnung mit anderen Menschen. Mit großen Ängsten kamen französische Kriegsgefangene in das Feindesland der „boches“. Bei der Arbeit und beim vielfach gemeinsamen Essen lernten sich Franzosen und Deutsche näher kennen. Auf beiden Seiten erkannte man , dass Menschen überall die gleichen Sorgen und Probleme haben. Der familiäre Umgang mit den französischen Gefangenen in vielen Bauernfamilien hat Spuren hinterlassen. Das damalige Miteinander auf den Höfen führte vielfach zu freundschaftlichen Beziehungen.

Viele der ehemaligen Kriegsgefangenen aus den Orten Ummendorf und Häusern kamen in den nächsten Jahrzehnten wieder. Der letzte ehemalige Kriegsgefangene kam im Jahre 2004 mit 84 Jahren nach Ummendorf zurück; es war sein sehnlichster Wunsch nochmals an diesen Ort zu kommen. Er suchte auf dem Friedhof das Grab seiner Bauersfamilie Hagmann, aber es war nicht mehr vorhanden.“