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Riedlingen

„Wie würdet ihr euch verhalten?“ - Neue Ausstellung über Anne Frank

Riedlingen / Lesedauer: 8 min

Durch die Wanderausstellung „Deine Anne – Ein Mädchen schreibt Geschichte“ führen Schüler
Veröffentlicht:20.01.2019, 21:43

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Nein, auf den ersten Blick sieht Adelina Warkentin nicht wirklich wie eine Ausstellungsführerin aus: schwarze Strümpfe, die übers Knie reichen, Minirock, schwarzer Pulli. 15 Jahre ist sie alt und geht in die Riedlinger Gemeinschaftsschule. Und doch passt sie perfekt für diese Aufgabe. Denn die Schülerin zeigt nicht in erster Linie Erwachsenen die Schautafeln und die beeindruckenden Bilder rund um Anne Frank. Es sind Gleichaltrige, die von ihr und den anderen sogenannten Peer-Guides durch die Anne-Frank-Ausstellung „Deine Anne – Ein Mädchen schreibt Geschichte“ geführt werden, die bis 31. Januar im Riedlinger Rathaus zu sehen ist. Eine Führung auf Augenhöhe.

Eine Führung haben Adelina Warkentin und ihre vier Mitstreiter an diesem Mittwochmorgen schon geschafft. Neuntklässler der Riedlinger Realschule waren da. Jungen und Mädchen, die in etwa im gleichen Alter sind wie Anne Frank es war, als sie sich in diesem Amsterdamer Hinterhof versteckt hielt; als sie ihre Gedanken, Gefühle und Sorgen in einem Tagebuch festhielt. Es waren die Gedanken und Gefühle einer 14-Jährigen, mit der Sprache einer 14-Jährigen. Das versuchen Adelina und die anderen Peer-Guides, wie die jugendlichen Ausstellungsbegleiter heißen, den Schulklassen zu vermitteln. Dass bei dem Thema noch Nachholbedarf besteht, wird schnell deutlich. Anne Frank? Schon mal was von ihr gehört? Ein Teil der Jugendlichen schüttelt den Kopf, ein anderer erinnert sich vage. „Der Name sagt mir was“, sagt einer.

Im gleichen Alter

Zwei Stunden später wissen alle deutlich mehr – über das jüdische Mädchen, das 1945 im Konzentrationslager in Bergen-Belsen starb. Im ersten Stock im Riedlinger Rathaus lernen die Schüler das Leben und die Familie von Anne Frank kennen. Sie erfahren von ihrer Zeit in Frankfurt, dem Umzug nach Amsterdam, den Jahren im Versteck, dem Verrat und ihrem Tod im KZ. Das Schicksal der Familie wird eingebettet ins Zeitgeschehen. Wie sich Deutschland in der NS-Zeit Stück für Stück verändert hat, illustrieren eindrücklich Bilder und Schautafeln. Im zweiten Stock verweist die Ausstellung auf das Heute: Wie ist das mit der eigenen Identität, mit Gruppenzwang? Wo werden auch heute in Deutschland Menschen ausgegrenzt und was tun wir dagegen? Konkrete Beispiele aus der Lebenswelt von jungen Erwachsenen.

Die Führungen tragen Früchte, wobei es vor allem der historische Teil ist, der einen starken Eindruck hinterlässt. Auch bei den Realschülern. „Da kriegt man mit, wie es zugegangen ist“, sagt Michael Bauknecht. „Ich habe jetzt ein ganz anderes Bild von der NS-Zeit“, meint Jan Widmann. Die Bilder von den stolzen Soldaten, die er damit auch in Verbindung brachte, werden überlagert von den Filmen und Fotos, die er in der Ausstellung gesehen hat. „Was ist in den Menschen vorgegangen, als die Busse an ihnen vorbeigefahren sind? Man wusste doch, wohin die fahren“, sagt Julian Zoll. Und Arian Leonhart fragt sich, wie sich die Soldaten gefühlt haben. „Die können das ja nicht so einfach weggesteckt haben, wenn sie 100 Leute umgebracht haben.“ Das hat ihn vorher auch schon mal umgetrieben, jetzt ist es noch klarer geworden: „In der Ausstellung denkt man mehr darüber nach.“

30 Schulklassen, über 600 Schüler, werden in diesen drei Wochen durch die Ausstellung in Riedlingen geführt. Die Jugendlichen stehen immer im Vordergrund. Nur bei der Organisation im Vorfeld und der offiziellen Eröffnung waren es zunächst die Erwachsenen, die das Geschehen bestimmten: Landrat Schmid, Bürgermeister Marcus Schafft, die Organisatorin vom Demokratiezentrum Oberschwaben, Friederike Höhndorf, und der Leiter des Anne Frank Zentrums Berlin, Patrick Siegele. Doch schon der zweite Teil des Abends gehörte den Schülern, die den Eröffnungsbesuchern stolz die Ausstellung vermittelten.

Neue Erfahrungen sammeln

Die fünf Peer-Guides haben sich in der Pause in eine Fensternische zurückgezogen. Dort sitzen sie nun zusammen und warten auf die nächste Klasse. Eigentlich müssten sie um diese Zeit in der Schule sein. Doch der Unterrichtsausfall war nicht die Motivation, diese Aufgabe zu übernehmen. Jeden von ihnen hat etwas anderes angetrieben. „Neue Erfahrungen sammeln“, will etwa die 14-jährige Vivien Wittwer. „Ich habe von meiner Oma mitbekommen, dass sie aus Russland nach Deutschland gekommen ist“, erzählt Manuel Oberst, 15 Jahre. Aber dann musste sie wieder vor den Nazis fliehen, durch die Wälder abhauen. So hat für Manuel Oberst die Ausstellung auch etwas mit seiner eigenen Familienbiografie zu tun.

Der Ansatz der „Peer Education“, also das Lernen von und unter Gleichaltrigen wird vom Anne Frank Zentrum (AFZ) in Berlin bewusst gewählt. „Wir gehen davon aus, dass die Guides Themen ansprechen, die sie selbst berühren und so gemeinsam mit den Besuchern Fragen diskutieren“, sagt Franziska Göpner, Leiterin des Bereichs Wanderausstellung des AFZ. „Diese jugendliche Perspektive bietet einen anderen Zugang zur Ausstellung. Mit ihrer Sprache sind sie Experten für ihre eigene Lebenswelt“, sagt Göpner. Die Erfahrungen, die sie mit dieser Form gemacht haben, sind durchweg positiv. „Die Schüler werden aktiv eingebunden und sie machen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit.“ Mit Erfolg: 90 Prozent der Jugendlichen wollen sich auch hinterher weiter engagieren, zeigt sich in den Auswertungen.

Was würdet ihr tun?

Mit verschiedenen Methoden, die die Peers in dem Seminar gelernt haben, werden die Schulklassen beteiligt. Ziel ist es, dass sie selbst mitreden, nicht nur stumme Zuschauer sind. Bei der Methode „Ein normaler Tag“ erzählen die Besucher, wie ihr Tag so aussieht: aufstehen, frühstücken, in die Schule fahren, chillen. Das wird dann mit dem Tag von Anne Frank und den Einschränkungen verglichen, denen die Juden ausgesetzt waren.

Zum Abschluss müssen die Schüler selbst nochmals aktiv werden: „Was würdet ihr tun, wenn eine Freundin eine Lehrstelle nur deshalb nicht erhält, weil sie einen ausländischen Namen hat?“, lautet die Frage. Oder „Was würdet ihr tun, wenn Hakenkreuze an die Wand geschmiert wurden?“ Polizei rufen? Hilfe holen? Medien informieren? Gar nichts? Dabei kommt es auch mal – wie gewünscht – zum Disput: „Was würdet ihr tun, wenn Nazis auf dem Schulhof rechtsradikale Musik verkaufen?“ Die meisten würden die Polizei rufen, ein Schüler hält das für unsinnig. „Die kommen doch eh nicht. Was willst du da auch machen, das bringt doch eh nichts“ – und erntet heftigen Widerspruch.

Gegen rechte Parolen

Mit rechten Parolen sind die Peer-Guides auch in der Ausstellung schon konfrontiert worden. Unappetitliche Witze wurden gerissen, Sprüche gemacht. „Einer hat gesagt, dass Juden das verdient haben“, erzählt Adelina Warkentin. Manuel Oberst und Elias Prinz berichten beide, dass ein Teilnehmer den Hitlergruß gezeigt hat, was den 17-jährigen Elias Christian in Rage bringt. „Der kann froh sein, dass ich nicht da war. Den hätte ich rausgeschmissen – ich führe doch keinen Nazi durch eine Anne-Frank-Ausstellung“, ereifert er sich. Natürlich wisse er, dass der wahrscheinlich nur provozieren wollte. Dennoch. Und wie haben die Peers reagiert? Mussten sie gar nicht, erzählen sie. Denn der ist von seinen Klassenkameraden sofort angegangen worden.

Großes Interesse

In Riedlingen war das Interesse von Schülern groß, sich an dem Projekt zu beteiligen. 30 Peer-Guides waren maximal gesucht – und schnell gefunden. „Es gab eine sehr große Nachfrage“, sagt Franziska Göpner. Schüler aus fünf verschiedenen Schulen machen mit und kommen auch miteinander ins Gespräch – Gemeinschaftsschüler, Realschüler, Gymnasiasten, Jugendliche der Beruflichen Schule und des Kolping-Bildungszentrums. Auch die Ansprechpartner an den Schulen waren hochengagiert, so das Lob der Organisatoren.

In einem zweitägigen Seminar wurden die 30 künftigen Peer-Guides fit gemacht für ihre Aufgabe. Und das Seminar, das von zwei Trainern geleitet wurde, hat begeistert. „Die zwei haben das voll cool ’rübergebracht, das hat Spaß gemacht“, sagt Manuel Oberst. Und die anderen stimmen gleich mit ein. Das sei nicht wie in der Schule gewesen, wo der Lehrer alles bestimmt. „Das war auf einem Niveau“, erzählt Elias Christian.

Von Seminar begeistert

Auch Sarah Herholz und Camilla Lesch, zwei Abiturientinnen, waren von diesen beiden Seminartagen begeistert. „Die Motivation wurde immer mehr aufgebaut“, erzählt Sarah Herholz. Auch weil mit Gleichaltrigen Themen diskutiert wurden, und – „wir hatten viele Diskussionen“. Diese positive Grundstimmung vermitteln sie auch an die Klasse weiter. Sie haben ihre erste Führung hinter sich gebracht, sind zufrieden, wie es gelaufen ist. Das wird ihnen auch von den Schülern des Kolping-Bildungszenturms am Ende zurückgespiegelt. „War stark“, „Alles gut“, so die Rückmeldung. Und der Beifall hallt noch ein Weile in den Fluren des Rathauses nach.