Gemeindehaus

Rituale für die Erinnerung

Riedlingen / Lesedauer: 4 min

Selbsthilfegruppe „Lichtblick“ lud trauernde Eltern zu Vortrag
Veröffentlicht:19.11.2018, 18:12

Artikel teilen:

Lebhafte Gespräche finden im katholischen Gemeindehaus in Riedlingen statt, Freude über Begegnungen ist erkennbar, dann begibt sich Arno Mayr ans Klavier und stimmt „Yesterday“ von den Beatles an. Es wird still im Raum, die rund 30 Anwesenden setzen sich und lauschen. Ihre Aufmerksamkeit gehört dem Diplom-Psychologen Jochen Künzel und dem Thema des Abends: „Trotz und mit der Trauer ein gutes Leben führen“.

Getrauert wird in den Reihen der Eltern um ein Kind und der psychosoziale Leiter der Nachsorgeklinik Tannheim will ihnen Anregungen geben, wie sie damit umgehen und ihr Leben neu gestalten können. Erfahrungen bringt er aus seiner Arbeit mit „verwaisten Familien“ mit, die eine vierwöchige Rehabilitationsmaßnahme in Tannheim gemacht haben.

In einer Trauersituation herrsche ein Gefühlschaos, es würde einem der Boden unter den Füßen weggezogen, man stumpfe ab, funktioniere. Es gelte, die Gefühle zu sortieren und sie auch zuzulassen – gute, wie schlechte – und zu versuchen, sie zu verstehen: Schuld, Ohnmacht, Sehnsucht, Aggression. Erinnerung aktiv gestalten, empfiehlt er, auch das bringe Nähe. Wenn man die Gefühle verstanden habe, könne man auch damit umgehen. Doch dies sei ein langer Prozess. Die Verdrängung der Trauer räche sich, warnt er.

Sich seiner Verhaltensweisen bewusst werden, ist die nächste Aufgabe. Wo fühle man sich seinem Kind nahe? Dies könne an vielen unterschiedlichen Orten sein. Der Umgang mit dem Zimmer des verstorbenen Kindes könne auch innerhalb der Partnerschaft verschieden sein. Hier sei es wichtig, eine Lösung für beide zu finden. Arbeit könne Struktur geben, aber auch Flucht sein und sich negativ auswirken. Als „ganz wichtig“ nennt Künzel, Rituale für die Erinnerung zu finden, die zu einem selber passen. Gemeinsames Ritual aller Betroffenen ist am Weltgedenktag für verstorbene Kinder am zweiten Sonntag im Dezember das Entzünden von Kerzen und zwar um 19 Uhr. Es sei verbunden mit dem Gefühl, „ich bin mit meinem Schicksal nicht allein“. In diesem Jahr wird der Gedenktag am 9. Dezember begangen.

Die Partnerschaft betroffener Eltern sei ein wichtiger Aspekt in der Trauer, wobei Frauen und Männer unterschiedlich mit ihr umgingen. Frauen sprechen eher darüber, Männer trauerten nach innen. Künzel mahnt die Wertschätzung und den Respekt vor der Trauer des anderen an, dann könne man Wünsche äußern und in Kontakt miteinander kommen. Manchmal genüge es, den anderen in den Arm zu nehmen. Man müsse dem Partner aber auch zugestehen, etwas nicht leisten zu können.

Tröstliches weiß er über die Geschwisterkinder zu sagen. 70 bis 80 Prozent, so die Erfahrung der Rehabilitation in Tannheim, kämen danach zurecht. Sie hätten einen beeindruckenden Umgang mit der Trauer und man solle ihnen ihren eigenen Weg ermöglichen. Bei Bedarf wird eine therapeutische Maßnahme für zu Hause empfohlen.

Familiäres Umfeld

Als ein „ganz schwieriges Thema“ beurteilt Künzel dagegen den Umgang mit dem sozialen Umfeld, was schon bei den Großeltern beginne. „Sie leiden doppelt“, nämlich unter dem Tod des Enkelkindes und dem Leid des eigenen Kindes. Die Erwartungen im familiären Umfeld seien sehr hoch und viele Beziehungen seien hier schon zerbrochen. Doch zu einem „guten Leben“ gehöre ein soziales Umfeld, das Trauernde auffange. Er sei am Anfang seiner Tätigkeit sehr erschrocken, wie viele Verletzungen hier stattfänden, zumal die Betroffenen sehr dünnhäutig seien und „keine Schutzmauer“ hätten. Doch auch ihrem Gegenüber gesteht er große Unsicherheit zu und empfiehlt, Signale auszusenden, was man brauche. Ein Vater habe einmal davon gesprochen, er wähne sich auf einer Insel und die anderen befänden sich auf dem Festland, wohin es eine Brücke zu bauen gelte. Dass dieser Brückenbau von beiden Seiten geschehen muss, wird bei der Veranstaltung deutlich.

Dem Engagement der Familien von Sandra Schmid und Arno Mayr gehört sein Lob. Sie haben nach einer gemeinsam verbrachten Rehabilitation für verwaiste Familien in Tannheim beschlossen, die Selbsthilfegruppe „Lichtblick“ zu gründen, die sich monatlich trifft – einmal in Sigmaringen und einmal in Riedlingen .