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Lebensgefühl

Das Lebensgefühl eines Hippies

Riedlingen / Lesedauer: 4 min

Acoustic Hippies und Hartmut Witt beschwören mit Musik und Worten die Vergangenheit
Veröffentlicht:15.10.2019, 16:46

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Nach einer begeisternden Vorstellung im gerammelt vollen Kino am Freitag haben die Acoustic Hippies am Sonntagnachmittag zu einem weiteren Event ins Riedlinger Lichtspielhaus geladen: zu einer Lesung mit Musik.

Leider waren nur wenige Besucher bereit, sich an einem strahlend schönen Nachmittag in den dunklen Kinosaal zu setzen. Hinzu kam noch die „Konkurrenz“ eines verkaufsoffenen Sonntags und Gallusmarkttreiben. Aber gelohnt hätte sich der Besuch, denn die „Acoustic Hippies“ zeigten sich von einer neuen anderen Seite. Das Konzert war nur akustisch, lediglich die Gitarren waren leicht verstärkt. Auf Hockern sitzend präsentierten sich die Musiker und ein Mikro gab es nur für Hartmut Witt , den Vorleser.

Witt ist ein guter Freund der Bandmitglieder aus Berlin und ebenfalls ein Musikerkollege, der sich intensiv mit der Musik der 60er-Jahre und deren Auswirkungen bis in die heutige Zeit befasst hat. Im Verlauf des Abends tauchte die Frage auf: „Was ist eigentlich ein Hippie?“ Vom Aussehen her passt Witt in das gängige Schema: lange Haare, Bart, ein farbig bedrucktes T-Shirt – nur die Blumen fehlten. Dafür trugen die Hippies wieder ihre floralen Hemden und das Attribut „jung“ trifft auf keinen der Protagonisten auf der Bühne mehr zu. Junggeblieben sind sie allerdings mit und durch Musik und Helmut Witt mit seiner angenehmen Vorlesestimme ist es gut gelungen, die ganz besondere Aufbruchsstimmung der Musikszene einzufangen.

Er hatte eine sehr bewegende Textstelle aus der Biografie von Graham Nash ausgewählt, in der er schildert, wie er lediglich mit einem Gitarrenkoffer bepackt aus England in Los Angeles gelandet ist, um dort Joni Mitchell zu besuchen. Dort traf er David Crosby und Steven Stills, um gemeinsam Musik zu machen und zu kiffen. Nash sagt zum Schluss ganz lakonisch: „Mein Leben nahm neuen Kurs auf.“ Ganz intensiv erlebte er den Gesang der amerikanischen Musiker, über den er seine eigene Stimme legte und „etwas Magisches war passiert“: drei akustische Gitarren und dreistimmiger Gesang. Der Brite verließ seine bisherige Band und die Karriere von „Crosby, Stills and Nash“ begann. Musikalisch erinnerten die Acoustic Hippies aus Berlin mit Songs aus der Zeit an diese großartige Musik und singen können diese Jungs auch – die Dreistimmigkeit war ohne verstärkte Mikros sehr gut zu hören.

Hippie oder „Gammler“?

Hartmut Witt erinnerte mit kurzen Texten und Zitaten an die politischen Ereignisse der 60er-Jahre wie den Kalten Krieg, den Mauerbau, die Studentenbewegung, Kriegsdienstverweigerer und Demos. Für einen „Summer of love“ sorgten die Hippies bereits 1967 in San Francisco und auch in Deutschland gab es Nachahmer, häufig mit dem Wort „Gammler“ beschrieben. Witt erinnerte an verbale Angriffe von Eltern und Umgebung: „Geh doch in den Osten“ oder „wenn du mein Sohn wärst...“. Zu hören gab es „I wasn’t born to follow“ sowie „When the eagle flies“.

Dann kam das legendäre Woodstock Festival 1969, die erste nicht militärische Versammlung in den USA mit diesem Besucherrekord: eine halbe Million. Trotz Widrigkeiten mit dem Wetter – es bot sich eine Schlammwüste – mit mangelnder Versorgung, mit lediglich 600 Toiletten für die Festivalbesucher, blieb die Stimmung durchweg friedlich. Die 32 Bands und Musiker, die in den dreieinhalb Tagen auftraten, wurden zu Ikonen der Musikgeschichte – jeder kennt sie und ihre Songs bis heute. Witt erinnerte an Joe Cocker und Carlos Santana, der hier seinen Durchbruch schaffte, und die Hippies spielten „Black Magic Woman“. Woodstock hat ausgestrahlt – nicht nur auf die Musik, sondern nach 1970 haben sich viele Dinge etabliert, die heute selbstverständlich sind: Frauen sind vor dem Gesetz gleichberechtigt, der Paragraf 175 ist abgeschafft, es können gleichgeschlechtliche Ehen geschlossen werden, das Umweltbewusstsein ist gestiegen („hier schließt sich der Kreis zu „Friday for Future“, sagte Witt) und WGs sind akzeptierte Lebensentwürfe.

Bis heute ist die Musik aus den 60ern bekannt und beliebt, was auch die großen Erfolge zahlreicher Coverbands wie die Acoustic Hippies zeigen. Schade um den unglücklich gewählten Termin, denn dieses Eintauchen in die Vergangenheit hätte wirklich mehr Zuhörer verdient.