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Wettlauf

„Früher war nicht alles besser“

Mittelbiberach / Lesedauer: 6 min

Klaus Jonski aus Mittelbiberach hat nach 30 Jahren seine Heimatsammlung fertiggestellt
Veröffentlicht:16.08.2017, 19:13

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Einen Wettlauf gegen die Zeit hat Klaus Jonski hinter sich: Beinahe 30 Jahre lang hat der 76-jährige Mittelbiberacher Fotos und Geschichten zusammengetragen. Jetzt wurde die Sammlung an den Landkreis Biberach übergeben und Jonski sagt: „Das ist ein beglückendes Gefühl.“

Sieben laufende Meter Ordner, Tonbänder und Schriftstücke wandern Ende des Jahres vom Rathaus in Mittelbiberach nach Biberach ins Kreiskultur- und Archivamt. Dessen Leiter, Jürgen Kniep, freut sich auf den Zuwachs und lobt in hohen Tönen: „Zwischen Ulm und Bodensee ist mir nichts Vergleichbares bekannt.“ Die Sammlung sei „völlig einzigartig“ und „spektakulär“. Traditionell nehme die Wissenschaft vor allem die Mächtigen in den Fokus. Jonski hat einen neuen Blick gewagt: Er zeigt das Leben der einfachen Leute. Bauern, Mägde, Knechte – das Porträt einer Generation kurz nach der Jahrtausendwende 1900, die von den Verheißungen der Moderne nur wenig spürte.

Jonski sagt: „Ich musste mich sputen. Das waren ja alles betagte Leute.“ In der Zeitung erschienen bald schon Todesanzeigen von Menschen, mit denen er kurz zuvor gesprochen hatte. Jonski hat die Anzeigen aufgehoben, weil er sich den Menschen verbunden fühlt. Häufig besaß der Heimatforscher zu Beginn seiner Arbeit kaum mehr als ein paar vergilbte Fotos, manchmal auch ganze Alben. Jede freie Minute nutze der ehemalige Grund- und Hauptschullehrer, um mehr herauszufinden über das frühere Leben in Oberschwaben und vor allem in seinem Wohnort Mittelbiberach.

Ein Bild zeigt eine alte Frau aus Mittelbiberach auf dem Krankenbett. Um ihren Hals hängt schwer das Mutterkreuz , die Auszeichnung des Hitlerregimes. In ihren Augen aber sieht man das Missfallen. Jonski hat ihre Enkelin getroffen und erfahren, dass die Frau streng katholisch war und „Hitler ihr Leben lang verabscheute“. Jonski erzählt: Eigentlich habe sie das Kreuz nie getragen, für das Foto habe man es ihr umgehängt. Ihr erster Sohn fiel in Stalingrad, zwei weitere Söhne wurden schwer verwundet. Das Leben der Frau war geprägt vom Verlust und der Trauer über das Schicksal ihrer Familie.

Das Leben Jonskis war geprägt von seinem Hobby: 1973 kam er als Grund- und Hauptschullehrer von Wain nach Mittelbiberach. Anfang der 80er Jahre suchte die Gemeinde einen Nachfolger für den bisherigen Heimatforscher. Jonski willigte ein und legte los. „Die Schule hat aber nie darunter gelitten“, betont er. Vielmehr habe er sein Wissen auch für einen lebendigen Unterricht einsetzen können.

Knecht mit elf Jahren

In den folgenden Jahren veröffentlichte er mehrere Bücher, eine Reihe unter dem Titel „Lebensbilder“ und zuletzt das Buch „Ach du liebe Zeit, Der Mensch, gefangen in der Zeit“. Als Lehrer war Jonski oft am Puls der Zeit und spürte, wie sich diese veränderte. Er sah, wie viele Schüler zunehmend über reichlich Taschengeld verfügten, mobiler wurden und mit digitalen Geräten aufwuchsen. „Ich hatte früher vielleicht mal zehn Pfennig übrig“, sagt er. Die Veränderungen bedauere er nicht, sondern beobachte sie nur. „Früher war nicht alles besser.“ Im Gegenteil. Bei seinen Gesprächen hörte Jonski Geschichten, die er selbst kaum glauben konnte. „Viele haben mich gerührt.“

Die Geschichte eines Jungen aus Mittelbiberach ist ihm besonders in Erinnerung geblieben. Die Eltern waren ärmlich, hatten sechs Kinder zu versorgen und „froh, wenn einer am Tisch gefehlt hat“. 1928 schickten sie den elfjährigen Johann als Knecht auf einen Hof nach Ingoldingen. Jeden Tag vor der Schule musste der Junge dem Vieh Heu geben, beim Misten helfen und manchmal die Kühe putzen. Den Mittagstisch verließ der Junge meistens hungrig. Zudem verlangte der Bauer, dass er alleine mit den Kühen den Acker pflügen sollte. Doch da war Johann längst zu schwach und ausgezehrt.

Seine schmutzige Wäsche brachte er meist zu Fuß von Ingoldingen nachhause. Dort angekommen brach er einmal in der Stube zusammen. Doch der Mutter wollte er nichts sagen, sie war selbst als Kind weggegeben worden. Einmal hatte er ihr sein Leid geklagt. Da hatte sie ihn angefahren: „Du wirsch’s wohl aushalta, i hau’s au ausghalta.“. Erst ein Onkel nahm sich des Jungen an, verpflegte ihn und schickte ihn wieder auf die Schule. Die Erlebnisse dieser Zeit hat Jonski aus eigenem Mund gehört. Kurz bevor der Mann starb, hat Jonski mit ihm gesprochen.

Einen Großteil der Interviews hat er auf Tonband aufgenommen. Diese würden schon bald wertvoll, glaubt er. Auch weil sie ein Beleg sind für den Dialekt, der früher gesprochen wurde. Mit dem Wandel der Technik hat sich auch der Wortschatz verändert. „Nehmen wir mal einen Wagen“, sagt Jonski. Für jedes Bauteil gab es einen eigenen Begriff. Die Bodenbretter nannte man „Schnättre“, „Runge“, den Schlitz, in den die Deichsel geschoben wird und „Micke“ die Bremse, die von Hand gedreht wurde.

Jonski kennt die mühsame Feldarbeit noch aus seiner Kindheit, als nach dem Krieg jede helfende Hand gebraucht wurde. Und er glaubt, dass sein Antrieb auch ein Stück weit die Suche nach der eigenen Vergangenheit ist. 1941 wurde Jonski bei Königsberg in Ostpreußen geboren. Am Kriegsende floh er nach Schleswig-Holstein. „Meine gesamte Familiengeschichte ist im Osten geblieben“, sagt er. Viele Dokumente gingen durch die Vertreibung verloren.

Menschen mit Kühen und Kröpfen

Von Norddeutschland aus wurde er 1951 nach Winterstettenstadt umgesiedelt. Im Gegensatz zu den wohlhabenden Landwirten im Norden erschienen ihm viele Bauern im Süden ärmlich. Statt mit Rössern arbeiteten viele noch mit Kühen und Ochsen. Allein in Mittelbiberach gab es in den Anfangsjahren der Bundesrepublik rund 150 kleine Milchbauern, erzählt Jonski. Auch die Bedeutung der Katholischen Kirche begriff er schnell, und wie wichtig es in vielen Familien war, ein Mitglied ins Kloster oder gar zum Priestertum zu bringen „Ich habe die Mentalität dieser Gegend gut kennengelernt.“ Die Menschen in seiner neuen Heimat dachten nicht nur anders als im protestantischen Norden, sie sahen oft auch anders aus: „Ich hatte noch nie Menschen mit Kröpfen gesehen.“ An der Nordsee hatte es Jod in Hülle und Fülle gegeben.

All diese Unterschiede hätten seinen Beobachtungssinn geschärft. Es sind Geschichten wie die des Knechts Johann oder der gläubigen Mutter, die Jonski nun für die Nachwelt festgehalten hat. Doch nicht immer hat er den Wettlauf gegen die Zeit gewonnen. Jonski schlägt einen Ordner auf mit dutzenden Fotos aus Mittelbiberach: Familienaufnahmen, Wohnungseinrichtungen, Arbeitsszenen. Alles ordentlich abgeheftet. Alles vorbereitet für die Recherche. Jonski wollte die Geschichten dahinter aufschreiben, mit den letzten Familienangehörigen sprechen. Doch unter den Fotos klafft die Leere. Jonski kam zu spät.