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„Es ist an der Zeit für neue 68er“

Füramoos / Lesedauer: 3 min

Theater ohne Namen beschwört in seinem neuen Stück den „Mythos 68“ in Biberach
Veröffentlicht:13.11.2017, 17:01

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Fast 50 Jahre sind vergangen seit die „wilden 68er“ auch Biberach in Aufruhr versetzten. Das Theater ohne Namen lässt diese Zeit in einem lebhaften Stück von Regisseur Peter Schmid wieder auferstehen. Am Wochenende war Premiere im „Rössle“ in Füramoos.

„Vor 50 Jahren ging der Punk ab in Biberach“, sagte Regisseur Schmid in seiner launigen Einführungsrede zu den rund 140 Besuchern im Rösslesaal. Er muss es wissen, schließlich hat er diese Zeit als 18-Jähriger live miterlebt, „und ich bin froh, dass ich dabei war“. Peter Zoufal (Gitarre) und Albert Schmid (Akkordeon, Mundharmonika) nehmen die Zuschauer mit „Those were the days“ gleich mal musikalisch mit in die 60er - noch ehe das eigentliche Stück beginnt.

Dessen erster Teil zeichnet ein Sittengemälde der damaligen Zeit: Auf der einen Seite das konservative, biedere Biberacher Bürgertum, das sich, Volkslieder singend, über das neue Auto, das eigene Häusle auf dem Mittelberg und den Urlaub in „bella Italia“ freut. Auf der anderen Seite ist da die aufmüpfige, langhaarige Jugend, die am Marktbrunnen rumgammelt, Musik von Stones und Beatles hört, Drogen und freie Liebe ausprobiert.

Verkörpert wird die Biberacher 68er-Generation durch die Protagonisten des Stücks, Ekke Leupolz (gespielt von Günter Heider und Timo Isambert) und Martin Heilig (Dino Fimpel). Beide wollen die Revolte gegen eine noch immer vom Nazimief geprägte Gesellschaft – allerdings auf unterschiedliche Weise: Leupolz mit radikalem Kampf, wenn’s sein muss auch mit Gewalt, Heilig innerhalb der demokratischen Grundordnung mit kreativen Ideen. In der Biberacher Jugend finden sie schnell Begeisterte für ihre lokale Variante der außerparlamentarischen Opposition.

Tumult bei Kiesinger-Rede

Der zweite Teil des Stücks stellt zwei Ereignisse in den Mittelpunkt, bei denen die unterschiedlichen Sichtweisen und Moralvorstellungen der Generationen knallhart aufeinander prallen. Bei einer Wahlkampfrede von Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger im April 1968 kommt es in Biberach zum Tumult. Während das Bürgertum dem Kanzler zujubelt und an seinen Lippen hängt, probt die Jugend den Aufstand, protestiert gegen den Vietnamkrieg, die Notstandsgesetze und hält Kiesinger dessen Nazi-Vergangenheit vor. Auch die Lokalpresse bekommt in Form eines CDU-linientreuen Journalisten ihr Fett weg.

Beim zweiten Ereignis, dem „Venceremos-Prozess“ vor dem Biberacher Amtsgericht zeigt sich, dass eine Penis-Zeichnung in einer Schülerzeitung das verklemmte Spießbürgertum offenbar weit mehr beunruhigte als es die Jugend gefährden konnte, wie von den Erwachsenen behauptet. Ekke Leupolz als Urheber wird freigesprochen, die Wege von ihm und Martin Heilig trennen sich in der Folge. Am Totenbett des von Drogenkonsum gezeichneten Leupolz nehmen sie in einer bewegenden Schlussszene Jahre später Abschied voneinander – die kurze, wilde, feurige Zeit der Biberacher APO ist zu Ende.

Die Sentimentalität ist jedoch nur von kurzer Dauer, denn die Spielfreude der Darsteller und die Musik reißt das Publikum bis zum Schluss zum Mitklatschen mit. „Es ist an der Zeit für neue 68er!“, skandieren die Schauspieler am Ende.

Und einer, der an diesem Abend im Publikum sitzt, stimmt ihnen still zu – es ist der echte Martin Heilig aus Biberach. „Für mich war das Stück eine Achterbahn der Gefühle“, sagt er hinterher im Gespräch mit der SZ. „Beängstigend finde ich, wie vieles davon noch immer oder wieder aktuell ist.“