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„Konnte nicht anders, als das zu malen“

Ertingen / Lesedauer: 5 min

Marianne Quénéhervé zeigt im Ertinger Rathaus Bilder von Kindern im Krieg
Veröffentlicht:16.09.2019, 17:58

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„Kinder zwischen allen Stühlen“ nennt Marianne Quénéhervé ihre Ausstellung, die sie noch bis 9. Oktober im Ertinger Rathaus präsentiert. Die Bilder sind so beeindruckend wie bedrückend, zeigen sie doch Kinder im Krieg: tote, gerettete, verstümmelte, verhungernde, verrohte.

Ein Streit ihrer beiden Enkel – fünf und sieben Jahre alt – war für sie vor einem Jahr Auslöser, mit ihnen über die Auswirkung von Auseinandersetzung, resultierend in Gewalt und Krieg zu sprechen. Danach hat sie sich an den Computer gesetzt und „Kinder im Krieg“ gegoogelt und Tausende grausamer Fotos gefunden, die dieses Thema dokumentieren.

Jedem in Erinnerung geblieben ist das Foto des dreijährigen Flüchlingsjungen Aylan aus Syrien, dessen Leiche am Strand von Bodrun in der Türkei angeschwemmt worden war. Marianne Quénéhervé jedoch musste feststellen: Es gibt noch viel grausamere Szenen. Einige davon hat sie ausgewählt, um sie in Acryl auf eine quadratische Leinwand von einem auf einen Meter ausdrucksstark zu malen und damit zur Auseinandersetzung mit dem Leid anderer Menschen anzuregen, aber auch mit der Asylpolitik und dem Umgang mit Flüchtlingen in unmittelbarer Umgebung. Sie selber ist im Helferkreis Asyl Ertingen aktiv und betreut hier insbesondere eine fünfköpfige Familie aus Afghanistan. Zusammen mit Joachim Lange aus Ertingen hat sie sich an der Aktion „Platz für Asyl in Europa“ der Diakonie Baden-Württemberg beteiligt. Jeder gestaltete einen Stuhl. Nachdem diese mit vielen anderen zum Tag des Asyls im Mai in Stuttgart zu sehen waren, stehen sie jetzt als Ergänzung zu der Ausstellung im Ertinger Rathaus. Marianne Quénéhervé hat ihren um Pappteile ergänzt und in kräftigen, eher dunklen Farben bemalt. Joachim Lange brachte an seiner Installation Flaggen an und eindrucksvolle Darstellungen von Armen, die sich hilfesuchend nach oben recken. Ein Stiefel kann als Überbleibsel einer misslungen Flucht verstanden werden.

Als sie das Plakat mit der Vielzahl von Stühlen sah, erinnerte sich Marianne Quénéhervé an eine Vorlage, die sie vor Jahren einmal gemacht hat und gestaltete mit diesen Schablonen drei kleine Miniaturen. Im Mittelpunkt jedoch stehen die lebensgroßen Bilder der Künstlerin. Sie lassen den Atem stocken; jenes der Namenlosen, von Wellen an den Strand gespült – tot. „Für einen Moment gerettet“ steht neben dem Bild des asiatischen Weißhelm-Soldaten, der zwei Kinder aus einem bombardierten Gebäude trägt. Tränen können einem kommen, wenn man den Jungen erblickt, der mit verlorenem Blick in einem Pick-up sitzt, ebenfalls von Weißhelmen aus der Hölle des Krieges geborgen. Während „Dinah aus Syrien “ den Betrachter mit blutendem Gesicht anschaut, sind die drei in weiße Tücher gehüllte Kinder für das Begräbnis vorbereitet. Ein Foto aus Kroatien, sagt Marianne Quénéhervé, allerdings seien auf ihm etwa hundert Getötete abgelichtet gewesen. Dann ist da noch der kleine Afrikaner, dem Minen beide Beine abgerissen haben. Er ergänzt sie mit Kreide auf den Straßenasphalt. Im Treppenaufgang hängen zwei etwas schmalere Bilder, ein Kind aus dem Jemen, dem Hunger preisgegeben. Dieses und ein weiteres von drei Kindern, von dem eines dem anderen „nur im Spiel“ eine Pistole an den Kopf hält, waren im Juni beim „Grand Prix international des Artistes“ in Cannes zu sehen. Dort am Strand, umgeben von Luxus, habe sie ihre Füße ins Wasser gestreckt, um gleichzeitig zu reflektieren, für wie viele Menschen dieses Wasser zum Grab wurde, sagt die Künstlerin. Die beiden Weißhelm-Bilder hat sie jüngst in Zürich in einer Ausstellung vorgestellt.

Den Schwächsten schuldig

„Ich konnte nicht anders, als das zu malen“, erklärt sie die Motive ihrer Bilder und gesteht, „die Auseinandersetzung mit mir selbst war heftig“. Bis ins Innerste aufgewühlt habe sie die Arbeit. Sie will aufrütteln, lässt sie die Flüchtlingspolitik doch verzweifeln. Denn: „So muss man die momentane Situation der Kinder in den heutigen Krisengebieten dieser Welt sehen“, sagt sie zu den Aufnahmen, zu ihren Bildern. Sie lasse das nicht kalt. Sei man es nicht den Schwächsten schuldig, innezuhalten und über die globale Auswirkung nachzudenken und das Wort Asyl?

Dass sie sich in der Flüchtlingsarbeit engagiert, begründet sie mit der eigenen Familiengeschichte. Ihre Mutter musste aus Danzig flüchten, war mit ihrem ersten Kind vier Jahre lang in einem Lager in Dänemark interniert. Auch ihr Vater, der aus der Nähe von Litzmannstadt, dem heutigen Lodz, stammte, hatte während des Krieges den Kontakt zu seiner Familie verloren. Einfach sei der Start für sie in Ertingen nicht gewesen, doch auch damals habe es Menschen gegeben, die ihnen geholfen hätten, resümiert sie. Die Mutter hat mit einem offenen Haus gegenüber Gastarbeitern aus Sizilien und später Griechenland reagiert und auch Boatpeople aus Vietnam aufgenommen. Marianne Quénéhervés Erfahrung mit der Flüchtlingssituation heute: „Viele Leute haben Angst vor den Fremden“, doch begegneten sie ihnen persönlich, sähe dies anders aus.

Direkt konfrontiert mit Kriegsgeschehen war ihr Sohn, der als Zeitsoldat in den Jugoslawien-Krieg musste. Traumatisiert von dem Gesehenen kam der junge Mann zurück, die Bilder ins Gedächtnis gebrannt. Ihre Tochter ist als Geografin weltweit unterwegs und wird in Afrika und anderswo mit viel Elend konfrontiert. Jetzt ist es die Sorge um die Enkel, die sie umtreibt.