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Bierhalle

Wenn die Kneipe zur Heimat wird

Biberach / Lesedauer: 5 min

Wenn die Kneipe zur Heimat wird
Veröffentlicht:15.02.2013, 19:25

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Nur wenig hat sich verändert seit Georg Felsberg das letzte Mal hier war – in der „Bierhalle“ in Biberach , die heute „Kachelofen“ heißt. Noch immer sieht die Wirtschaft in der Karpfengasse von außen ziemlich heruntergekommen aus. Noch immer fließt drinnen der Alkohol in Mengen. Das Licht in der Kneipe ist schummrig, auch wegen des Zigarettenrauchs, der sich sofort in den Klamotten einnistet. In jeder Ecke der Kneipe steht ein Spielautomat. Nur an einem wird gespielt. Die wenigen Holztische mit ihren gepolsterten Sitzgruppen sind unbesetzt. Die fünf Gäste nehmen stattdessen mit einem Platz an der Theke vorlieb. Georg Felsberg gesellt sich zu ihnen und stellt sich vor: „Hallo, mein Name ist Georg Felsberg, ich habe vor mehr als 30 Jahren einen Film über diese Kneipe gedreht.“

Der heute 72-Jährige war bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2006 Redakteur beim SWR . Über Biberach hat er schon mehrere Fernsehbeiträge gedreht, darunter auch einen über das Schützenfest. Im Jahr 1981 hat er sich jedoch einem ganz besonderen Thema gewidmet: der damaligen Bierhalle.

Bei den Biberachern galt sie als anrüchige Spelunke. Hier tummelten sich Menschen, mit denen viele Bürger der Stadt nichts zu tun haben wollte: Arbeitslose, Alkoholiker, Ausländer. Bei Felsberg weckte die Kneipe jedoch das Interesse des Filmemachers. „Für mich war das eine fantastische Welt – eine Oase für Menschen, die nicht wissen, wo sie hin sollen“, sagt Felsberg. Für Biberach sei die Bierhalle wahrlich kein Aushängeschild gewesen, und von Amtsseite habe man ihm nahe gelegt, doch lieber in einem anderen, besser angesehenen Gasthaus zu drehen. Der Fernsehmann ließ sich aber nicht von seinem Vorhaben abbringen, einen Film über die vermeintliche Spelunke zu drehen – und so entstand die 45-minütige Dokumentation, die im Dezember 1981 im Südwestfunk ausgestrahlt wurde und am Donnerstag im Museum aus Anlass der Sonderausstellung noch einmal zu sehen war.

Der Andrang an diesem frühen Abend ist riesig: Etwa 50 Besucher sind in den Ausstellungsraum gekommen, um sich den Film mit dem Titel „Die andere Heimat“ anzuschauen. Die Aufnahmen zeigen das multikulterelle Miteinander in der Bierhalle, aber auch die damit einhergehenden Probleme. Deutsche, Türken, Italiener und Jugoslawen trafen hier aufeinander. Der Stammtisch gehörte den Deutschen, den Rest des Lokals teilten sich die Ausländer, hauptsächlich Türken. Eines aber hatten alle Gäste gemeinsam: Sie waren „heimatlos“. Was ihnen fehlte, waren Anerkennung, familiäre Geborgenheit, Erfolg im Leben. Während die einen ihre Probleme im Alkohol ertränkten, versuchten sich die anderen mit Glücksspielen abzulenken. „Ihr Zuhause ist die Kneipe“, lässt Felsberg den Sprecher im Film sagen.

Was wurde aus den Beteiligten?

Das Herzstück dieser „anderen Heimat“ war die damalige Wirtin Vera Brunn . Mit ihrer resoluten, aber herzhaften Art hatte sie das Lokal im Griff. Sie half ihren Gästen, wo sie konnte, scheute sich aber auch nicht davor, mal einen rauszuwerfen, wenn er sich unflätig benahm. Während sie sich der Deutschen annahm, kümmerte sich ihr Lebensgefährte Suleiman um die Türken. „Einerseits hoben sich die Menschen in der Bierhalle voneinander ab, andererseits half man sich gegenseitig, wenn Not am Mann war“, erinnert sich Felsberg, der in seinem Film viel mit Originaltönen und Porträtaufnahmen arbeitet. Zehn Tage lang hatte er 1981 in der „Bierhalle“ mit seinem kleinen Team gedreht.

Nach dem Film wollen die Zuschauer von Felsberg wissen, was aus Vera und Suleiman geworden ist. Die Wirtin ist vor zehn Jahren gestorben, Suleiman wurde in die Türkei abgeschoben. „Wir haben immer wieder versucht, ihn ausfindig zu machen und Kontakt zu ihm aufzunehmen – ohne Erfolg“, erzählt Anika Götz, die Schwiegertochter von Vera, die an diesem Abend im Publikum ist. Die Bierhalle hat die heute 27-Jährige nicht mehr gekannt, aber an Vera hat sie nur gute Erinnerungen. „Das war eine tolle Frau“, sagt sie. Für sie und ihren Mann sei es daher sehr schlimm gewesen, die Aufnahmen von Vera zu sehen.

Von den Gästen der ehemaligen Bierhalle kommt heute kaum noch einer in den Kachelofen. Und auch die Pächter wechselten seither in regelmäßigen Abständen. Die Geschichten der legendären Multikulti-Kneipe kennt aber jeder. Einer, der bei den Dreharbeiten 1981 ebenfalls dabei war, ist Tadeusz Holod. Bis heute ist der 69-Jährige der Kneipe in der Karpfengasse treu geblieben. „Für mich ist das Lokal das beste in ganz Biberach“, sagt der Stammgast. „Und das wird sich auch nie ändern.“

Georg Felsberg allerdings wäre die Kneipe, so wie sie heute ist, keinen Film mehr wert. Nachdenklich schaut er sich im „Kachelofen“ um: „Ich wüsste nicht, was ich hier heute noch filmen sollte. Es fehlen die multikulturellen Gäste, und vor allem fehlt das Spannungsverhältnis zwischen ihnen.“ Genau das aber habe die Kneipe damals ausgemacht.

„Wenn es die Bierhalle nicht schon gegeben hätte“, sagt Felsberg an diesem Abend zu den Besuchern im Museum, „hätte man sie erfinden müssen.