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Kinderbuchs

„Kinder dürfen heute keinen Makel haben“

Biberach / Lesedauer: 4 min

Die Biberacher Kinder- und Jugendpsychiaterin Renate Crasemann über das ADHS
Veröffentlicht:25.08.2015, 14:52

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Wer kennt sie nicht, die Geschichte des Zappelphilipps aus Heinrich Hoffmanns 1845 veröffentlichten Kinderbuchs „ Struwwelpeter “? Da heißt es über den Jungen, der nicht ruhig am Tisch sitzen kann: „Er gaukelt und schaukelt, er trappelt und zappelt.“ Ein Phänomen, das heute, 170 Jahre später, unter dem Begriff Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) zusammengefasst wird.

Die AOK hat jüngst eine Senkung der ADHS-Diagnosen festgestellt, nachdem die Zahl lange nach oben ging: Zwischen 2011 und 2013 gab es in Biberach, Ulm und dem Alb-Donau Kreis 3,5 Prozent weniger Patienten, bei denen die hyperkinetische Störung erfasst wurde. SZ-Mitarbeiterin Linda Leinecker hat mit der Kinder- und Jugendpsychiaterin Renate Crasemann über ADHS gesprochen.

Frau Crasemann , was sind die klassischen Anzeichen für ADHS?

Die Symptome eines ADHS sind oft unspezifisch. So können sie in vielen anderen Krankheitsbildern vorhanden sein, aber auch in der normalen Kindheit- und Jugendphase auftreten. Eine Diagnose ist dadurch schwierig. Eine Konzentrationsstörung etwa haben viele, die deswegen nicht zwangsweise ADHS haben müssen. Und nur weil zum Beispiel ein Scheidungskind unbedingte Aufmerksamkeit beansprucht, leidet es nicht automatisch an einer Hyperaktivitätsstörung. Es ist also vieles zu berücksichtigen, wenn man eine ADHS-Diagnose richtig stellen will.

In Biberach und Umgebung sind laut AOK die ADHS-Diagnosen in jüngster Zeit gesunken. Was ist die Ursache Ihrer Meinung nach?

Außerhalb des Landkreises Biberach wissen wir Mediziner von einer Praxis, in der es über viele Jahre hinweg extrem häufig ADHS-Befunde gegeben hat. Dort hat man sehr schnell und mit zum Teil unüblichen Methoden eine ADHS-Diagnose gestellt. Das hat die Statistik vermutlich sehr beeinflusst. Diese Einrichtung existiert aber nicht mehr. Auch grundsätzlich wurde ADHS in der vergangenen Zeit überdiagnostiziert, der Trend wandelt sich allerdings. Mittlerweile ist es der Autismus, der jetzt in den Fokus geraten ist und schnell als Verdachtsdiagnose gestellt wird. In der Medizin gibt es immer mal wieder diese Wellenbewegung, wann gewisse Krankheiten schneller diagnostiziert werden oder nicht. Dass sich der Trend jetzt wandelt, überrascht mich deswegen nicht.

Warum, glauben Sie, ist die Anzahl der an ADHS erkrankten Kinder und Jugendlichen in den Jahren davor gestiegen?

Kinder haben heute weniger Möglichkeiten, sich spielerisch zu betätigen. Die Gesellschaft und Schule verlangt ihnen eine zu hohe Leistungsebene ab, die im Vergleich zu dem, was früher von ihnen erwartet wurde, ein himmelweiter Unterschied ist. Im Gymnasium zum Beispiel sind die Kinder teilweise 38,5 Stunden in der Woche. Nicht eingerechnet die Zeit, die sie für Hausaufgaben und Klausurenlernen aufwenden müssen. Das sind mehr Stunden, als mancher Arbeitnehmer aufweisen kann. Hinzu kommt bei Medizinern, Eltern und Lehrern die Hilflosigkeit, wenn bei einem Kind etwas nicht stimmt und wir glauben, es muss zwanghaft an irgendetwas liegen. Unsere Gesellschaft ist mittlerweile sehr defizitorientiert – Kinder dürfen heute keinen Makel mehr haben. Was normal ist, ist heute unter Umständen krankhaft. Eine Diagnose auf ADHS ist da schnell gestellt. Das meine ich aber allgemein, nicht nur, was Biberach betrifft.

Bei wie vielen Ihrer Patienten haben Sie ADHS diagnostiziert? Gibt es in Ihrer Statistik ebenfalls solche Schwankungen?

Im Jahr habe ich zwischen vier und fünf Kinder sowie Jugendliche, bei denen ich die Erkrankung neu ermittle, die ich also nicht von anderen Einrichtungen übernehme. Schwankungen gibt es bei mir nicht. Meine Gesamtzahl an ADHS-Patienten erhöht sich zwar kontinuierlich, das liegt aber an der Langzeitbetreuung von sechs bis acht Jahren. Was auch häufig vorkommt, ist, dass ich zu besorgten Eltern sage: Ihr Kind hat kein ADHS und nicht einmal eine psychische Erkrankung. In vielen Fällen handelt es sich nämlich um eine ganz normale Entwicklung.

Ist diese Krankheit, wenn sie tatsächlich festgestellt ist, heilbar?

Das „wirkliche“ ADHS ist eine chronisch hirnorganische Störung, die nicht heilbar ist. Vielen daran erkrankten Menschen merkt man es nicht an, weil sie durch die heutige Medizin und durch die richtige pädagogische Herangehensweise besser damit zurechtkommen. Man darf aber nicht vergessen, dass das ADHS durchaus positive Seiten hat.

Inwiefern?

Menschen mit ADHS sind extrem kreativ, sehr sensibel und oft einfühlsam. Sie sind sehr spontan in der kreativen Umsetzung eigener Ideen. Außerdem sind sie meiner Erfahrung nach nie nachtragend und regelrechte Stehaufmännchen, wenn etwas mal nicht gelingt. Sie lassen nie nach.

Was wahrscheinlich ab und an für ihre Umgebung schwierig ist.

Das stimmt, aber hier setzt meine Arbeit an. Gerade mit der sozialen Umgebung muss ich viel reden, um ihr bewusst zu machen, dass ADHS jetzt nun mal da ist. Dies bedarf einer besonderen Form der Wahrnehmung. Viele Eltern etwa sind frustriert, fast am Ende ihrer Kräfte, weil ihr Nachwuchs als unerziehbar gilt. Sie müssen jedoch erkennen, dass der Alltag auf die Kinder angepasst werden muss. Nicht die Kinder zwanghaft an den Alltag. Deswegen gehört Elternbetreuung zu meiner Arbeit dazu.