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Wahnsinnstat

„Wahnsinnstat“, die mit einem Wunder endete

Tettnang / Lesedauer: 4 min

Zwischenfall auf dem Bahngleis bei Meckenbeuren: Amtsrichter verurteilt Täter auf der Suche nach Adrenalin-Kick zu Jugendstrafe auf Bewährung
Veröffentlicht:02.07.2013, 16:40

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Axel Müller hat am Dienstag nach eigenen Worten zum „schwersten Geschütz“ gegriffen. Der Amtsrichter verurteilte den Jugendlichen, der sich am 19. November 2012 bei Meckenbeuren von einem Zug der Bodensee-Oberschwaben Bahn hat überrollen lassen, zu sechs Monaten Jugendstrafe. Sie wird für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Gleichzeitig muss der Jugendliche, der wie durch ein Wunder die „Wahnsinnstat“ überlebte, 50 Stunden gemeinnützige Arbeit verrichten. Teil des Urteils am Jugendschöffengericht ist außerdem die Auflage, eine bei einem Jugendpsychologen begonnene Therapie durchzuziehen.

Müller war sich mit Staatsanwalt Alfred Mayer , Verteidiger Ralph Seubert und der Vertreterin der Jugendgerichtshilfe einig: Was da am späten Nachmittag des 19. November auf den Bahngleisen zwischen Meckenbeuren und Lohner passiert ist, war eine Wahnsinnstat. Der Verteidiger sprach sogar von „Schwachsinn hoch drei“. Dass der heute 17-Jährige dem Tod in die Augen gesehen hat, der Zug ihn letztendlich überrollt, der Jugendliche wie durch ein Wunder aber nicht eine einzige Schramme erlitten hat, das waren unverrückbare Tatsachen. Wie der „vorsätzlich gefährliche Eingriff in den Bahnverkehr“, so die Anklage, aber strafrechtlich zu würdigen sei, darüber schieden sich die Geister. Am Ende: Der Staatanwalt „verzichtet auf die Keule“, der Amtsrichter lässt begangenes Unrecht richtig spüren.

Zumindest eine „schädliche Neigung“ wollte dem Jugendlichen, zweifellos in schwierigen familiären Verhältnissen aufgewachsen, niemand ans Bein binden. Dass er durch seine Tat aber „schwere Schuld auf sich geladen hat“, für den Amtsrichter jedenfalls ist es Fact. Freilich, mit Blick auf das Jugendstrafrecht, „es geht nicht darum, mit dem Urteil einen Abschreckungsfall zu schaffen, es geht um Erziehung – und um eine Sanktion, die der Person des Jugendlichen gerecht wird.“ Für Müller ist dies Freiheitstrafe.

Für den Amtsrichter ist die schwere Schuld auch deshalb erwiesen, weil die „Wahnsinnstat“ einen Zugführer völlig aus der Bahn geworfen hat. Der 56-jährige Mann, zwölf Jahre am BOB-Steuerstand, war an besagtem Schicksalstag zwischen Aulendorf und Friedrichshafen unterwegs. Am Ausgang einer Kurve und einer Geschwindigkeit von 120 Kilometer hatte er auf dem Gleis einen Gegenstand gesehen. Es war schließlich aber kein „Dachs oder eine Folie“, wie er zuerst gedacht hatte. Nein, „nach einem Warnpfiff erhob sich drei Sekunden später ein Kopf.“ Trotz Bremsung, er hat ihn überrollt, „Und das war’s“, erklärte der sichtlich gezeichnete Zugführer im Zeugenstand.

Der Schock von damals ist längst nicht überstanden. Heute, nach sechsmonatiger Arbeitsunfähigkeit und vielen Wochen psychologischer Betreuung, „es ist keine Fahrerei mehr.“ Seine Perspektive ist die Rente in drei Jahren. Das sich auf den Gleisen erhebende Gesicht beschert nach wie vor schlaflose Nächte, und beim Dienst im Zugführerstand tauchen immer wieder schon erlebte Situationen der „Suizidstrecke“ auf. Bislang hatte er immer bremsen können – bis zum 19. November 2012. Dass dem Jugendlichen nichts passiert ist, „er hatte alles Glück dieser Erde.“ Er hat sich offensichtlich so klein gemacht, dass wenige Zentimeter zwischen Zug und Körper zum Überleben ausreichten. „Eine Wahnsinnstat, die mit einem Wunder endete“ hieß der Grundtenor im Gerichtssaal.

Warum er’s getan hat?:An Selbstmord hat er nicht gedacht. Er tat’s spontan. Aus „Langeweile – und weil ich einen Adrenalinkick suchte“, meint der Jugendliche. Zuerst war er sich sicher, dass ihm nichts passiert. Dann aber raste der Zug auf ihn zu. „Entweder tot oder voller Adrenalin“, erinnert er sich. Und später, als er sich aufgerappelt hat, den Bahndamm hochgeklettert ist und mit dem Fahrrad nach Hause gefahren ist, da war er „hippelig.“ So, wie es „zehn Dosen Red Bull nicht hinbekommen könnten.“

Mit dem Sinken des Adrenalinspiegels sah der Jugendliche, eine „Lawine an Konsequenzen auf mich zukommen.“ Das Einsatzaufgebot von Feuerwehr und Polizei am Ort des Zwischenfalls, die vielen Medienberichte, die Tat als großes Thema in Facebook: „Ich bekam’s mit der Angst zu tun.“ Die Angst ist tiefer Reue gewichen. „Es tut mir echt leid“, sagte der Jugendliche am Dienstag auch an die Adresse des Zugführers. Das „Entschuldigung, ich würde das auch nie wieder tun“, hat ihm wohl jeder im Gerichtssaal abgenommen.