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Unternehmen fordern Bleiberecht für Flüchtlinge

Tettnang / Lesedauer: 6 min

Arbeitenden Flüchtlingen droht teils Abschiebung – Vaude-Chefin Antje von Dewitz plädiert für politische Lösung
Veröffentlicht:11.10.2017, 21:12

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Auf ihren offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel hin hat Vaude-Chefin Antje von Dewitz viel Zuspruch erhalten. Zwar gibt es auf das Schreiben vom 18. September noch keine Antwort aus Berlin, aber positive Resonanz von anderen Firmen. In dem offenen Brief spricht sich Antje von Dewitz für „ein Bleiberecht und Rechtssicherheit von Geflüchteten aus, die bereits durch Ausbildung oder Festanstellung erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert wurden“.

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Vaude beschäftigt insgesamt neun Flüchtlinge. Fünf von ihnen droht die Abschiebung, zwei von ihnen warten noch auf einen Bescheid. Mit der Situation ist Vaude nicht allein. Antje von Dewitz äußert sich auf Anfrage der Schwäbischen Zeitung: „Ich nehme wahr, dass viele Unternehmen die gleichen Erfahrungen machen, der Brief sehr viel Zustimmung erhält und sich auch gleich mehrere den Forderungen angeschlossen haben.“

Suche nach eigener Wohnung scheitert

Auch kleine Unternehmen sind betroffen. Bei Friseur Christian Irmler etwa arbeitet Omid Moradi (32). Der Iraner berichtet, dass er in seinem Heimatland verfolgt worden ist, nachdem er zum Christentum konvertiert sei. Seine Familie habe ihn gewarnt, nachdem bei einer Hausdurchsuchung zwei Bibeln gefunden worden seien. Da begann die Flucht.

Nun hat er einen Ablehnungsbescheid erhalten und Widerspruch dagegen eingelegt. Das Verfahren ist noch nicht beendet. Leistungen erhält er nicht, seinen Lebensunterhalt verdient Moradi im Friseurladen, zahlt damit alle Lebenshaltungskosten und auch Steuern inklusive Sozialabgaben. Die Suche nach einer eigenen Wohnung ist bisher gescheitert. Einmal hätte es fast geklappt. Allerdings sollte Christian Irmler die Bürgschaft übernehmen – jedoch nicht nur für die Dauer der Beschäftigung, sondern unbefristet: „Das konnte ich so nicht unterschreiben.“

Baubeginn für den ersten Bauabschnitt im Sommer oder Herbst 2018

Omid Moradi wohnt also weiter im ehemaligen Schwesternwohnheim. Bis vor einigen Monaten waren die Gebäude im Besitz des Landkreises und wurden als vorläufige Unterbringung genutzt. Mittlerweile ist die Stadt zuständig, da aus der vorläufigen eine Anschlussunterbringung geworden ist.

Das Tettnanger Immobilienunternehmen teba hat die Gebäude gemeinsam mit der HKPE (Hofkammer Projektentwicklung) GmbH vom Landkreis gekauft (die Schwäbische Zeitung berichtete) Laut teba-Geschäftsführer Andreas Schumacher werden die Arbeiten im ersten Bauabschnitt voraussichtlich im Sommer oder Herbst 2018 beginnen. Das Baugesuch werde 2017 eingereicht, die ersten Kündigungen sollen zeitnah erfolgen. Der Beginn des zweiten Bauabschnitts mit den Häusern 1, 2 und 3 sei dann für das Frühjahr 2021 geplant. Die langfristig angelegte Planung, so Schumacher, solle der Stadt genug Luft für die Unterbringung Betroffener geben.

Stadt Tettnang prüft Gebühr

Als Nutzungsgebühr für das knapp 14 Quadratmeter große Zimmer hat Moradi bisher etwa 150 Euro monatlich gezahlt. Jetzt sollen es 411 Euro sein. Da in der Übergangsphase keine Zahlungen fällig waren, legte er Geld zurück, die Forderung von mehr als 2000 Euro allerdings kann er derzeit nicht erfüllen. Dies berichten auch andere Betroffene. Die Stadt Tettnang prüft dies derzeit. „Die Gespräche laufen“, sagt Judith Maier von der Stadt Tettnang. Mahnungen würden bis zur Klärung nicht versendet. Viele Betroffene haben zudem mithilfe des Asylnetzwerks Widerspruch eingelegt.

Robert Schwarz vom Landratsamt Bodenseekreis verweist darauf, dass die regulären Mieter eine Warmmiete von 220 bis 345 Euro gezahlt haben. Er betont dabei allerdings, dass die Mieten vor dem Hintergrund des angekündigten Verkaufs nicht mehr angehoben worden seien. Bei Flüchtlingen allerdings handelt es sich um eine Unterbringung, sodass Gebühren statt einer Miete fällig werden.

Hohe Kosten für Unternehmen bei Abschiebung von Mitarbeitern

Für die Unternehmen ist die Unsicherheit in Bezug auf den Verbleib ihrer Beschäftigten aufreibend. Antje von Dewitz beziffert allein den Mehraufwand für die Einstellung samt Qualifizierung auf 50 500 Euro. Demgegenüber stehen Zuschüsse der Arbeitsagentur und des Jobcenters in Höhe von 23 000 Euro. Die Anwaltskosten für die Widersprüche gegen Ablehnungsbescheide liegen laut Antje von Dewitz bei 10 000 Euro. Sollten wirklich alle sieben Mitarbeiter abgeschoben werden, nennt sie zudem einen erwarteten Verdienstausfall von 247 000 Euro.

Diese Kosten entstehen laut von Dewitz durch den Produktionsausfall sowie eine Nachbesetzungs- und Einarbeitungszeit. Die Flüchtlinge hatte Vaude seinerzeit eingestellt, da sich trotz Ausschreibungen keine Mitarbeiter für die fraglichen Stellen in der Manufaktur gemeldet hatten.

Vaude war zudem dem Aufruf Angela Merkels an die Unternehmen gefolgt, Flüchtlinge einzustellen und damit zu integrieren. Antje von Dewitz schreibt: „Ich sehe es auch heute noch als meine Verantwortung, hier als Unternehmerin meinen Beitrag zu leisten, geflüchtete Menschen schnell zu integrieren und damit auch eine soziale Spaltung innerhalb von Deutschland mitzuverhindern.“

Unberechenbare Situation

Lisa Maria Fiedler hat die Integrationsarbeit bei Vaude maßgeblich gestaltet und verweist darauf, dass es für ein Unternehmen sehr schwierig ist, mit dieser unberechenbaren Situation umzugehen. Antje von Dewitz beschreibt das so: „Die Situation stellt sich unverändert dar. Ich muss davon ausgehen, dass wir sieben gut integrierte und wertvolle Mitarbeiter verlieren werden, die wir zudem nicht leicht nachbesetzen können.“

Bei Bäcker Hansjörg Bär arbeitet Lucky Ihaza (25) aus Nigeria. Seit etwas mehr als zwei Jahren ist dieser jetzt im Tettnanger Familienunternehmen beschäftigt. Durch den Ablehnungsbescheid konnte er Partnerin und Kind nicht aus Stuttgart nach Tettnang holen, eigentlich möchten beide heiraten. Nun droht ihm akut die Abschiebung nach Italien, nachdem der Widerspruch gescheitert ist. Dort wurde er zuerst registriert, fällt damit unter das Dublin-Abkommen und dürfte für mindestens zwölf Monate nicht zurück nach Deutschland – die junge Familie wäre getrennt. „Dabei wären alle Voraussetzungen für Asyl gegeben“, sagt Hansjörg Bär. Ihaza ist Christ und kommt aus einem Boko Haram-Gebiet: Die Familie sei dort verfolgt worden.

Forderung: Lösung auf Bundesebene

Eine Möglichkeit für den Verbleib Ihazas wäre ein Ausbildungsvertrag. Doch den könnte Hansjörg Bär erst ab August zum normalen Ausbildungsstart gewährleisten: „Es ist ein Irrsinn, was da passiert.“ Sein Mitarbeiter arbeite sehr ordentlich, zahle Steuern, erhalte keine Leistungen: „Und wir brauchen ihn.“ Ebenso wie Antje von Dewitz spricht Bär sich für eine Lösung auf Bundesebene aus, bei der nicht nur auszubildende Geflüchtete, sondern auch normale Arbeitskräfte einen besonderen Schutz genießen.

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