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Schwurgerichtskammer

Das Opfer hatte mehrere Schutzengel

Meckenbeuren / Lesedauer: 5 min

Prozessbeginn am Landgericht wegen versuchten Mordes vor einem Jahr in Brochenzell
Veröffentlicht:10.01.2017, 20:32

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Vor der 1. Schwurgerichtskammer des Landgerichts Ravensburg muss sich seit gestern ein 22-Jähriger unter anderem wegen versuchten Mordes verantworten. Ihm wird vorgeworfen, in der Nacht zum 6. Januar 2016 im Anschluss an den bunten Abend der Landjugend in Brochenzells Humpishalle einen ihm völlig unbekannten 31-jährigen Landwirt auf dem Parkplatz grundlos mit einem Messer in den Rücken gestochen und einen lebensgefährlichen Lungenstich versetzt zu haben.

Der Saal 1 des Landgerichts war voll besetzt, als Vorsitzender Jürgen Hutterer gestern die auf vier Verhandlungstage angesetzte Sitzung eröffnete und Oberstaatsanwalt Karl-Josef Diehl die Anklage verlas. Heimtückisch und aus niederen Beweggründen habe der Mann aus dem Bodenseekreis seinem Opfer eine neun Zentimeter tiefe Stichwunde versetzt und billigend in Kauf genommen, sein Opfer zu töten.

Der 31-jährige Landwirt hatte sich nach dem Stich noch zu seinem Auto geschleppt und vor dem Altenheim in Brochenzell um Hilfe gerufen. Ein Krankenwagen brachte ihn in die Tettnanger Klinik, ein Hubschrauber nach Ulm. Eine Notoperation rettete ihm das Leben.

Laut Schilderung des Angeklagten war der Tat ein Aufenthalt in einer Gaststätte in Ravensburg vorausgegangen, die der Angeklagte mit zwei Bekannten besuchte. Dort blieben die drei von 19 bis etwa 21.30 Uhr, aßen und tranken, ehe sie nach Meckenbeuren fuhren, um dort ein weiteres Lokal aufzusuchen. Cola-Weizen und Schnäpsen sei auch hier reichlich zugesprochen worden.

Wut über die nichtvorgefundene Jacke

Schließlich habe man sich an den bunten Abend der Landjugend in der Humpishalle erinnert, den man kurz vor Mitternacht aufsuchte. Am frühen Morgen, als das Programm beendet war, habe sich der „harte Kern“ der Organisatoren in der Hallenküche getroffen, um die Veranstaltung ausklingen zu lassen. Dorthin ging zunächst auch der Angeklagte, zog kurz darauf aber einen „stillen Abgang“ vor. Er wollte nach Hause. Erheblich alkoholisiert, habe er an der Garderobe seine Jacke nicht gefunden und sei in Wut geraten, da er glaubte, diese sei ihm – wie schon einmal Wochen zuvor – gestohlen worden. In Rage packte er wahllos fünf fremde Jacken von der Garderobe und machte sich auf den Weg.

Zu Hause angekommen, habe er sich in der Küche aus dem Messerblock ein Exemplar mit einer Klingenlänge von 18 Zentimetern gegriffen und sei hin zur Humpishalle zurückgekehrt, wo es auf dem Parkplatz ohne Vorwarnung zur Tat kam. Unvermittelt habe er von hinten dem 31-Jährigen zwischen Halswirbel und Schulterblatt in den Rücken gestochen und das Messer wieder aus dem Körper seines Opfers gezogen. Das Messer entsorgte er in der Schussen.

Von der Tat habe er einen Tag später in der Zeitung und im Internet gelesen. Dazu bekennen tat er sich lange nicht. Auch als er Ende Januar von der Polizei mit dem Tatvorwurf konfrontiert wurde, stritt er die Beteiligung ab. Im Gegenteil, er versuchte dem Gericht zufolge die Tat zu vertuschen und das fehlende Messer auszutauschen. Polizeitaucher hatten in der Schussen nach dem Messer gesucht, das durchs Hochwasser zuvor aber nicht auffindbar war.

Vor der Kammer machte der 22-Jährige zum Prozessauftakt umfangreiche Angaben zu seiner Person und der Tat. In seinem Heimatort ist er als positiver junger Mann bekannt. Ein so ganz anderer Angeklagter als jene, mit denen es die Kammer oft zu tun habe, wie Vorsitzender Hutterer bemerkte. Der Angeklagte sprach von einer glücklichen Kindheit, einem guten Schulabschluss mit der mittleren Reife, einer erfolgreichen Lehre und einem guten Einkommen im Drei-Schicht-Betrieb. Er wohnt im Haus der Eltern, sitzt aber auf Schulden in Höhe von etwa 12 000 Euro durch Sportwetten.

Der Alkohol als größter Gegner

Bis zur Inhaftierung im Juli ging er leidenschaftlich dem Fußball nach, das war sein Leben, sagte der Angeklagte. Und: Der Alkohol sein größter Gegner. Freitags und sonntags wurde fast immer getrunken. Daher hat er den Führerschein verloren – hat ihn aber auch wieder bekommen.

Er habe Glück gehabt, sagte ihm Hutterer. Glück, dass sein Opfer den Verletzungen nicht erlegen ist und er nicht wegen Mordes auf der Anklagebank sitzt. Sein Opfer leidet nach eigenen Angaben immer noch. Nach dem Stich habe er zeitweise die Orientierung verloren, aber gesehen, als der 22-Jährige wegrannte. Er sei in ein schwarzes Loch gefallen. Blutend, mit Schmerzen, als hätte man ihn mit Stacheldraht umwickelt, hatte er am Tatmorgen gegen 5 Uhr das Altenheim erreicht, wo an einem Fenster Licht brannte und man auf seine Rufe reagierte. Der robuste Mann ist heute noch körperlich eingeschränkt, muss täglich Tabletten nehmen, konsultiert seit März einen Psychologen, wie er erzählt. Der Richter zeigte sich nicht sicher, ob solche Verletzungen „ein Harfespieler“ überstanden hätte. Sein Leben sei nicht mehr so wie es einmal war, sagte der Mann, dem Ärzte und Schwestern attestierten, dass er mehrere Schutzengel gehabt habe.

Warum er angegriffen wurde, weiß das Opfer bis heute nicht. Ebenso wenig wie der Täter, wie er zu dieser Tat fähig gewesen sein konnte.

Der Prozess wird am Mittwoch, 18. Januar, um 9 Uhr fortgesetzt.