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Wachstumszwang

Plädoyer für moderaten Kapitalismus

Immenstaad / Lesedauer: 3 min

Mathias Binswanger spricht im Immenstaader Rathaus über den „Wachstumszwang“
Veröffentlicht:18.07.2019, 16:15

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In seinem neuen Buch „Der Wachstumszwang“ beschreibt Mathias Binswanger den Zwang zum Wachstum als Grundlage des Gedeihens und Überlebens der Wirtschaft. Rund 50 Interessierte kamen zur Veranstaltung des christlichen Bildungswerks im Immenstaader Rathaus, um dem Vortrag des Schweizer Ökonomieprofessors zu folgen.

In vorindustriellen Gesellschaften dominierte die Agrarwirtschaft mit dem Bedürfnis nach Nahrungsmitteldeckung. Der Boden als wichtigster Produktionsfaktor war natürlichen Grenzen unterworfen, die Wirtschaft stationär, also ohne Zuwachs. Mit der Industrialisierung wurde der Boden als Produktionsmittel vom Kapital und von Maschinen abgelöst, welche menschengemacht sind und deshalb immer erweitert werden können. Seitdem wachse die Wirtschaft kontinuierlich jedes Jahr um zwei bis vier Prozent mit einer Unterbrechung durch die Finanzkrise im Jahr 2009. Die ökonomische Theorie, Wachstum und Wohlstand diene dem persönlichen Glück des Einzelnen, treffe in unserer Gesellschaft nicht mehr zu. Eigentlich sei eine Sättigung erreicht, es würden jedoch einerseits durch Qualitätssteigerungen und andererseits durch psychologische Anreize wie Statussymbole oder technische Erweiterungen immer neue Bedürfnisse nach Konsum generiert. Nur Wachstum gewährleiste Investitionen, Arbeitsplätze, Bildung, Sozialsysteme. Charakteristikum der Unternehmen in Geldwirtschaften seien das Streben nach möglichst hohen Gewinnen, erfolgreicher als die Konkurrenz zu sein und den technischen Fortschritt für neue Verfahren und Produkte zu nutzen. Dieses System sei darauf angewiesen, ständig zu wachsen, andernfalls könne es nur schrumpfen, ein Stagnieren sei ausgeschlossen. „Wir haben nicht die Alternative zu sagen, wir haben genug. Die Abwärtsspirale ist nur durch ein Immer-Weiterwachsen vermeidbar.“ An den Hochschulen würde immer noch gelehrt, Wachstum würde durch Bedürfnisse ausgelöst: „Da wird so getan, als würden wir in einer Tauschwirtschaft leben.“ Doch unsere Wirtschaft brauche nicht die Guthaben der Sparer, sondern die Kredite der Banken, wodurch die Geldmenge Jahr für Jahr ansteige. Zeitverzögert stiegen die Kosten, wodurch die Gewinne schwänden, was zu weiterem Wachstum zwinge. Voraussagen, ein Ende des Wachstums sei unabdingbar, widersprach Binswanger: „Irgendwie besitzt dieses System eine große Fähigkeit, diese Grenzen des Wachstums zu überschreiten.“ Unendliches Wachstum sei möglich, allerdings müsse technischer Fortschritt der Effizienzsteigerung bei gleichzeitiger Ressourcenschonung dienen. Die Frage nach einem Ausweg aus dem Dilemma des Wachstumszwangs konnte Binswanger nicht beantworten. Es gebe zwar (noch) keine funktionierende Alternative zur kapitalistischen Wirtschaft, Bestrebungen wie Gemeinwohlökonomie könnten nur Nischen bedienen. Jedoch reiche auch ein moderates Wachstum aus, was aber nicht im Sinne der börsennotierten Aktiengesellschaften sei. Es gelte, über alternative Unternehmensverfassungen nachzudenken, wie beispielsweise Genossenschaften.

Nach dem Vortrag nutzten viele Menschen die Gelegenheit, ihre Fragen und Meinungen zu äußern. Die massive Verschuldung oder eine Schuldenbremse, die Rolle der Rückversicherer, der Banken, das Entstehen von Blasen und die Frage der Golddeckung wurden dabei erörtert. Letztere sei eine Illusion gewesen, platze eine Blase, entstehe anderswo die nächste, Rückversicherer seien Teil des Systems, um Risiken zu separieren, Banken könne man in realwirtschaftliche und Casinobanken trennen. Und Verschuldung sei nicht gleich Verschuldung, in der Schweiz gebe es die Schuldenbremse, „aber der Staat hat Interesse an der Verschuldung von Menschen.“