StartseiteRegionalBodenseeFriedrichshafenRegionale Musiker schaffen sich eigenes Podium

Kammermusik

Regionale Musiker schaffen sich eigenes Podium

Friedrichshafen / Lesedauer: 6 min

Die vierstündige Lange Nacht der Kammermusik im GZH ist auch ein Protest gegen fehlende Auftrittsmöglichkeiten
Veröffentlicht:24.09.2018, 18:53

Von:
Artikel teilen:

Es ist die dritte Lange Nacht der Kammermusik seit 2015 und Jürgen Jakob erklärt, warum sie so wichtig ist. „Wir wollten eine Möglichkeit schaffen, anspruchsvolle Kammermusik zu machen – mit Kollegen, die hier in der Region normalerweise an Musikschulen tätig sind. Da die Kulturämter lieber irgendwelche Stars einkaufen und es fast keine Auftrittsmöglichkeiten gibt, schaffen wir sie selbstr.“ Dafür bekommt er reichen Applaus aus dem vollen Saal.

14 Musiker, eine Sopranistin und ein Vokalensemble füllen an diesem Abend im GZH eine Lücke im Konzertangebot, die es eigentlich nicht geben sollte. Gemeinsam warten sie mit Klassik, Musik der Moderne und der Gegenwart, konzertantem Tango und Latinjazz im Kammermusikformat auf. Ein Kraftakt, der in der Programmzusammenstellung Wagnisse eingeht und auf ganzer Linie gewinnt. Auch mit den, so Jakob, „abgefahrenen Stücken“, die er als Leiter des Konzerts an den Anfang stellt.

Francis Poulenc wurde als „Mönch und Lausbub“ bezeichnet, und sein Klaviersextett FP 100 spiegelt diese Einschätzung wider. Christine Zimmermann (Klarinette), Ximena Poveda (Oboe), Ulrike Sailer (Flöte), Rainer Seidel (Fagott) und Ferdinand Fremerey (Horn) schaffen mit Jakob am Klavier eine Musik voller Gegensätze. Die elegische und fragende Einkehr ins klangliche Dunkel kann in fidele Motive umschlagen, die in ihrer Fröhlichkeit fast schon frech wirken. Dabei zeigt Poulenc einen melodischen Einfallsreichtum, der bis ins Slapstickhafte überschäumt. Das Spiel ist umso bemerkenswerter, als die Besetzung erst zwei Tage vor dem Konzert erstmals zusammentraf.

Beethovens „Große Fuge“, von Jakob und Elisa Ringendal auf dem Flügel zu vier Händen gespielt, ist allein schon aufführungstechnisch schwierig. Beethoven hat das Stück ursprünglich für Quartett geschrieben – „aber der Tonumfang von erster und zweiter Geige sowie der Bratsche ist fast genau gleich“, erklärt Jakob. Da wird’s bei diesem ohnehin komplexen Werk eng auf der Tastatur. Aber ohne die geringste Panne gelingt dem Duo nicht nur die Verzahnung im akustischen Mikrometerbereich, sondern auch das poetische Element, auf das es Beethoven gleichfalls ankam. Die kleinen triumphalen Motive im Stück wirken wie der Lorbeer, mit denen sich Jakob und seine ehemalige Schülerin am Ende schmücken dürfen.

Irreal perfektes Spiel

Ein weiteres Faszinosum ist „Paganini lost“ von Jun Nagao. Das Stück verarbeitet Motive der berühmten 24. Caprice von Niccolò Paganini – wird aber nicht auf der Violine gespielt, sondern von Frank Schüssler und Simone Ehinger (ehemals Müller) auf Saxofonen, begleitet von Jakob am Klavier. Sie erspielen sich einen Jubelsturm des Publikums, mit flirrend verwobenen Bläserklängen, die in ihrer Bruchlosigkeit fast schon irreal wirken – denn an Sollbruchstellen in den rasanten, verwirbelten Melodiebahnen fehlt es nicht.

Der nächste Höhepunkt gelingt Jakob mit der Sopranistin Sabine Winter aus Feldkirch. Sie wird 2019 in der Produktion „Der Liebestrank“ des Musiktheaters die Hauptrolle übernehmen. In Jake Heggies „Eve-Song“ betrachtet sie den Schöpfungsmythos aus weiblicher Perspektive – als Eva, die nur aus Adams Rippe gemacht ist und damit für minderwertig gilt. Aber mithilfe der Schlange gewinnt sie Erkenntnis und dreht den Spieß um: Denn ist nicht das Schicksal aller Männer, von Frauen geboren zu werden? Phänomenal, wie wütend die Sopranistin gegen pariarchale Vorstellungen rebelliert, wie sie frohlockt, mit musicalhaft eingefärbter Stimme kokettiert und als Bezwingerin ihrer Wurzeln lässig von der Bühne geht.

Furios entlässt Jakob das Publikum in die erste Pause, mit Guillaume Connessons „Techno Parade“, wieder mit Frank Schüssler und Simone Ehinger als Partner; diesmal auf Sopransaxofonen. Jakob bearbeitet die Tastatur wie einen Joystick bei einem Computerspiel, so aufwühlend und lauernd ist sein Part. Hochnervös und in fast furchterregenden Klangfarben flattern und stochern die Saxofone in Höhen, in denen nur noch die Gespenster verkehren.

Mit zwei schwungvollen ungarischen Tänzen von Brahms leiten Jakob und Elisa Ringendahl am Klavier das zweite Drittel ein. Es gehört Brahms zur Gänze. Wunderschön und durchaus mit Humor gelingt eine Auswahl der Liebesslieder-Walzer, für die sich ein gemischter elfköpfiger Kammerchor mit Mitgliedern aus fünf Chören zusammengefunden hat. „Wäre gern ein Mönch geworden, wären nicht die Frauen“, beklagen durchaus wonnig und sehnsüchtig die Männer. Aber auch feurig bewegt agiert der von Ringendahl und Jakob am Klavier begleitete Chor (“Am Gesteine rauscht die Flut“) oder hochdramatisch bewegt (“Verzicht, o Herz, auf Rettung“).

„Als liebten sich die Instrumente“

„Es ist als liebten sich die Instrumente“, sagte ein Freund von Brahms über dessen Klarinettentio a-Moll op.114. Wer Christina Zimmermann (Klarinette), Frank Westphal (Cello) und Jakob im Zusammenspiel hört, versteht, was er damit meinte. Das Trio agiert wie eine lang schon bestehende Formation, so hingebungsvoll ist das Zusammenspiel, bis zum ungarisch anmutenden vierten Satz. Sein Tonfall greift den Anfang des zweiten Drittels auf und beschließt es.

Schließlich, im letzten Teil, Piazzollas „4 Jahreszeiten“, mit denen sich Christina Burchardt (Violine), Westphal (Cello) und Jakob Ovationen erspielen. Das Trio agiert in diesen Tango-Sätzen hochangespannt emotional und rasant, wie das bei Piazolla nun mal sein muss. Die Musik fordert geradezu eifersüchtig die volle Aufmerksamkeit des Gehörs ein. Im unbestimmten Zwielicht des Herbst-Satzes dringt Westphal in die Klangfarben der Violine vor und charmiert in langen Bogenstrichen, wie eine Katze, der nicht zu trauen ist. Spätestens in diesem dritten Satz wirft das Publikum die Konzertgepflogenheiten über Bord und klatscht vor Ende des Werks. Dabei steht mit dem vierten Satz, dem Winter, doch das Schönste noch bevor: Jakobs Herzensergießung am Klavier, gefolgt von einer grimmigen Hetzjagd. Wer Piazzolla spielt, muss in Gegensätzen zu Hause sein.

Zum Schluss überlässt die Lange Nacht der Kammermusik dem Temperament endgültig das Regiment, mit der „Sonata Latino“ von Mike Mower. Jakobs Klavier würde jede kubanische Bar zum Tanzschuppen machen. Ihre Tänzerin findet die Komposition in der entfesselt fliegenden Querflöte von Lea Polanski, die am 19. Oktober den Häfler Künstlerförderpreis erhalten wird. Zusammen mit Thomas Lutz (E-Bass) und Harald Fuchsloch (Schlagzeug) legt Jakob ihr eine Basis, auf der ihr notiertes Spiel wie ein begeistert improvisierter Freiflug klingt.

Beglückt und um freudig gegebene Spendengelder erleichtert, verabschiedet das Publikum die Mitwirkenden dieses langen, aber nie langatmigen Konzertabends. 2493 Euro kamen zusammen. Wie viel nach Abzug der Saalmiete an den Kinderhospizdienst Amalie übergeben werden kann, steht noch nicht fest.