StartseiteRegionalBodenseeFriedrichshafenNetzwerk-Chef will „Gemeinsinn über Corona hinaus erhalten“

Gemeinsinn

Netzwerk-Chef will „Gemeinsinn über Corona hinaus erhalten“

Friedrichshafen / Lesedauer: 6 min

Jürgen Holeksa (Netzwerk) über die Krise, ihre Folgen und Finger in den Wunden der Vergangenheit
Veröffentlicht:08.04.2020, 04:59

Artikel teilen:

Mit bislang 22 Anträgen hat das Netzwerk für Friedrichshafen nach eigener Einschätzung für frischen Wind im Häfler Gemeinderat gesorgt. Warum die neue Gruppierung diesen Weg fortsetzten will und wie die Zusammenarbeit mit den anderen Parteien und Gruppen läuft, hat Fraktionsvorsitzender Jürgen Holeksa im Gespräch mit Martin Hennings erläutert.

Corona hat Friedrichshafen fest im Griff. Wie verbringen Sie im Moment Ihre Tage?

Wir versuchen, unser berufliches und privates Leben mit den Corona-Restriktionen in Einklang zu bringen. Natürlich passt die aktuelle Situation nicht zu einer offenen Gesellschaft. Aber unser Motto ist: „Jeder Tag, an dem sich jeder Einzelne von uns an die Corona-Restriktionen hält, bringt uns alle gemeinsam einen Tag näher an deren Ende“.

Hat das Virus auch die Kommunalpolitik lahmgelegt? Oder sind die Räte in diesen Tagen in Diskussionen und Entscheidungen eingebunden?

Im Moment verzichtet der Gemeinderat richtigerweise auf Präsenzsitzungen. Und leider lässt die aktuelle Rechtslage Gemeinderatssitzungen in Form von Videokonferenzen oder Abstimmungen per Stimmbotschaft noch nicht zu. Dennoch sind beispielweise Diskussionen per Telefonkonferenz und E-Mail weiterhin möglich und finden auch statt.

Im Mai haben die Bürger einen neuen Gemeinderat gewählt mit neuen Gesichtern und Gruppierungen. Wie schätzen Sie es ein: Hat sich das Gremium schon gefunden?

Der neue Gemeinderat ist aus unserer Sicht eine interessante Mischung aus erfahrenen Rätinnen und Räten mit zum Teil jahrzehntelanger Erfahrung sowie jungen Rätinnen und Räten, die eben keinen Bezug zu den Entscheidungen der Vergangenheit haben, sondern vielmehr sehr wahrnehmbar neue Sichtweisen in das Gremium einbringen wollen. Dass sich daraus interessante Konstellationen bis hin zu unerwarteten Mehrheiten ergeben können, haben einige Abstimmungen der Vergangenheit gezeigt. Diese Sach- und Themenorientierung hilft, Fraktionsgrenzen zu überwinden und endlich auch einmal neue Wege zu gehen. Wir freuen uns jedenfalls, wenn sich diese Entwicklung fortsetzt.

Sie haben frischen Wind versprochen für den Häfler Gemeinderat. In der praktischen Arbeit – wir denken an den nicht unmittelbar umsetzbaren Antrag zur Friedrichstraße oder die Entwicklung vom zunächst geforderten Ein-Euro-Ticket hin zum später dann beantragten 365-Euro-Ticket – fehlt manchmal allerdings noch die Geduld. Sind Sie schon die Windmacher oder noch in der Lernphase?

Die Ziele und Absichten von 22 Anträgen seit September 2019 plus der Initiierung zweier fraktionsübergreifender Anträge zeigen sehr eindrucksvoll, dass wir auch inhaltlich frischer Wind sind. Vielfach haben sich andere Fraktionen unseren Anträgen angeschlossen und wir konnten gemeinsam Mehrheiten erreichen. Denken Sie an unseren Antrag zur Begrünung des Adenauerplatzes. Und wir haben Bewegung und Transparenz in Vorgänge aus der Vergangenheit gebracht, etwa beim Thema Seewald oder bei den Kosten für den Uferpark. Ähnliches gilt auch für unseren Antrag zur Friedrichstraße – dieser wurde nicht abgelehnt, sondern zur Prüfung in die Weiterentwicklung des Verkehrsentwicklungsplanes eingespeist. Und unser 365-Euro-Ticket werden wir im Gemeinderat im Rahmen des ÖPNV-Berichtes wieder aufgreifen. Wir sehen uns insgesamt auf einem guten Weg.

Das Netzwerk ist bekannt für klare Ansagen und Aussagen. Sind Sie da manchmal auch übers Ziel hinausgeschossen oder wollen Sie diesen Kurs beibehalten?

Als neue Fraktion ist es aus unserer Sicht geradezu unsere Pflicht, gelegentlich den Finger in manche Wunde der Vergangenheit zu legen. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Entscheidungen zum Kauf des Klinikums 14 Nothelfer beziehungsweise in Tettnang. Eine aus unserer Sicht völlig falsch umgesetzte Wachstumsstrategie hat zu millionenschweren Verlusten geführt, Millionen, die wir lieber direkt in unser Klinikum in Friedrichshafen investiert hätten. Der lapidare Satz, dass mit dem Wissen von heute die damaligen Entscheidungen falsch gewesen sind, kann nicht unkommentiert bleiben. Wir staunen unverändert über dieses Verständnis von Verantwortung und werden unseren Kurs sicher beibehalten, vielleicht sogar noch deutlicher werden.

Der Ton im Rat ist generell konfrontativer geworden. Die Zahl der Anträge und damit der Initiativen aus der Mitte des Gremiums hat zugenommen. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Konfrontativ klingt aus unserer Sicht zu hart. Klar ist, die zum Teil über Jahrzehnte entstandenen und kaum veränderten Mehrheiten gibt es in diesem Gemeinderat nicht mehr. Und eine Mehrheitsfindung über sieben Fraktionen hinweg ist heute deutlich schwieriger als früher. Aber die Wählerinnen und Wähler wollten hier offensichtlich Veränderung, Aufbruch und Bewegung herbeiführen. Und unser Wille ist es, über Anträge und Initiativen diesen Auftrag auch umzusetzen.

Was würden Sie als größten Erfolg des Netzwerks im neuen Rat sehen und was war die schmerzlichste Niederlage?

Wir haben uns sehr über die nun wohl doch mögliche Verhinderung der Teilrodung des Seewaldes gefreut. Den Seewald nicht zu roden, die Kleingärten zu erhalten und dennoch die Erweiterung von Liebherr zu ermöglichen, war uns sehr wichtig und dazu haben wir als einzige Fraktion einen Antrag gestellt. Dieser Antrag soll endgültig in wenigen Wochen entschieden werden. Weniger erfreulich sind die Momente, in denen vermeintlich formale Gründe, eine schnelle Lösung und Umsetzung erschweren, aufhalten und verzögern.

Eigentlich sollte die Verabschiedung des Doppelhaushalts 2020/2021 den kommunalpolitischen März bestimmen. Muss das Zahlenwerk als Folge der Krise neu geschrieben werden? Und welche Schwerpunkte würden Sie dann setzen?

Die aktuelle Entwicklung macht aus unserer Sicht eine Neubewertung der wesentlichen Einnahmequellen für die Haushalte in Stadt und Stiftung unerlässlich. In diesem Zusammenhang sollte dann auch über die Funktion der beiden Haushalte gesprochen werden. Wir würden gerne diskutieren, welche Ausgaben durch den städtischen Haushalt zu leisten sind und bis zu welcher Gesamthöhe der Haushalt der Zeppelin-Stiftung eigentlich wachsen soll. Wichtige Schwerpunkte für beide Haushalte sind unter anderem die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum, die Belebung der Innenstadt und nachhaltige Beiträge zum Klimaschutz in Verbindung mit neuen Akzenten in der Verkehrspolitik.

Was wünschen Sie den Häflerinnen und Häflern in dieser schwierigen Zeit? Und was wünschen Sie sich von den Bürgern dieser Stadt?

Bitte bleiben Sie gesund und halten Sie sich bitte weiter an die Corona-Restriktionen. Uns allen, aber insbesondere auch unseren Einzelhändlern, Gewerbetreibenden und Unternehmen wünschen wir ein baldiges Ende dieser schwierigen Zeit. Unser aufrichtiger Dank gilt all jenen, die zum Beispiel im Gesundheitswesen, im Einzelhandel, bei der Post oder bei der Müllabfuhr, trotz Corona jeden Tag ihrer Arbeit nachgehen und unsere Grundversorgung sichern. Und wir wünschen uns, dass wir den entstandenen Gemeinsinn über Corona hinaus erhalten können.