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Konterfei

„Täglich verlieren wir junge Leute“: Iraner vom See über Schrecken in ihrer Heimat

Friedrichshafen / Lesedauer: 6 min

Die Iraner Sarah und Farhad S. vom Bodensee berichten über die Situation in ihrer Heimat
Veröffentlicht:20.12.2022, 20:00

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Bilder von demonstrierenden Frauen und Männern, die das Konterfei von Jina Mahsa Amini auf Plakaten in die Luft strecken und Berichte darüber, wie ihnen die Hinrichtung droht: Für viele Menschen hierzulande, reihen sich diese Nachrichten in eine ganze Flut schrecklicher Ereignisse ein, die jeden Abend über den Fernseher flimmern. Wenn jedoch Sarah und Farhad S. ( Namen von der Redaktion geändert ) aus Friedrichshafen diese Bilder sehen, dann sind sie in Gedanken bei ihren Familienmitgliedern, die zu einem Großteil im Iran leben.

„Es ist unbeschreiblich. Ich bekomme eine unglaubliche Wut, wenn ich darüber rede und daran denke“, sagt Farhad S. Aber dann berichtet er doch, was er aus seiner Heimat mitbekommt, denn er findet, dass „die Menschen hier wissen müssen, was abgeht“. Rückblick auf den 16. September 2022: Die 22-jährige Iranerin Jina Mahsa Amini wird am 13. September – nur etwas mehr als eine Woche vor ihrem 23. Geburtstag – von der iranischen Sittenpolizei festgenommen, weil sie angeblich ihre Kopfbedeckung, den sogenannten Hidschāb, in der Öffentlichkeit nicht richtig getragen haben soll. Drei Tage später stirbt sie. Die Polizei erklärt, Amini habe einen Herzinfarkt und einen Schlaganfall erlitten. In den sozialen Netzwerken jedoch berichten Menschen, dass die Polizisten auf ihren Kopf eingeschlagen hätten und dass das der Grund für ihren Tod ist.

Was Frauen im Iran alles nicht dürfen

Für Sarah und Farhad S. sind solche Geschichten von der Unterdrückung der iranischen Frauen nichts Neues. „Eine Frau darf im Iran vieles nicht tun. Sie darf zum Beispiel nicht mit einem Mann etwas trinken oder essen gehen, wenn sie nicht auch mit ihm verheiratet ist. Sie darf allein auch kein Hotelzimmer buchen oder überhaupt verreisen, wenn der Ehemann nicht die Erlaubnis dazu erteilt“, schildert Sarah S.

 Sich die Haare abzuschneiden ist in den vergangenen Monaten zu einem Akt der Solidarität vieler Frauen mit der getöteten Jina Mahsa Amini geworden.
Sich die Haare abzuschneiden ist in den vergangenen Monaten zu einem Akt der Solidarität vieler Frauen mit der getöteten Jina Mahsa Amini geworden. (Foto: Yasin Akgul/afp/Schwäbische.de)

Bei dem jüngsten Aufenthalt in ihrer Heimat sei sie jedoch sogar noch positiv überrascht gewesen. „Ich lebe seit mehr als 30 Jahren in Friedrichshafen und war vor einiger Zeit das erste Mal seit vielen Jahren wieder im Iran. Da erlebte ich eine sehr lockere Atmosphäre und war ziemlich erstaunt. Ich habe meine Tante gefragt, was passiert ist, dass alle so entspannt sind und sie antwortete, dass das immer so ist: Wenn es eine Wahl gibt, dann wird alles etwas lockerer, danach geht die Sittenpolizei jedoch wieder los und setzt strengste Regeln um“, berichtet die Häflerin.

Die erschießen Leute mitten auf der Straße.

Farhad S.

Der Tod von Jina Mahsa Amini hat Proteste und Demonstrationen gegen die Sittenpolizei und das Gesetz, dass Frauen den Hidschāb tragen müssen, ausgelöst, die seither nicht abreißen. Doch wer gegen den Staat auf die Straße geht im Iran, der riskiert sein Leben. „Jeden Tag verlieren wir junge Leute“, sagt Farhad S. und scrollt über seinen Handy-Bildschirm durch die Schreckensbilder aus seiner iranischen Heimat.

 Auch bei einer Demonstration in Istanbul wird Solidarität mit den iranischen Frauen und das Porträt von Jina Mahsa Amini gezeigt.
Auch bei einer Demonstration in Istanbul wird Solidarität mit den iranischen Frauen und das Porträt von Jina Mahsa Amini gezeigt. (Foto: OZAN KOSE/Schwäbische.de)

Er verfolgt das Geschehen so gut es geht über verschiedene mediale Kanäle in den sozialen Netzwerken. Zu seiner Familie vor Ort hat er fast täglich Kontakt, „wenn das Internet es zulässt“, sagt er, und fügt an: „Manchmal schaltet der iranische Staat es ab.“ In seiner iranischen Heimatstadt habe es zuletzt auch Schießereien gegeben. Wegen ihrer Demonstrationen gegen das Mullah-Regime werden derzeit immer wieder Menschen im Iran hingerichtet, wie etwa die beiden 23-jährigen Iraner Mohsen Shekari und Madschid-Resa Rahnaward. „Die erschießen Leute mitten auf der Straße“, sagt Farhad S. – und seine Verzweiflung darüber ist in jedem Wort zu hören.

Kleine Erfolge

Immer wieder gebe es jedoch auch kleine Erfolge, sagt er. „Es gab einen dreitägigen Streik. Die Leute sollten die Geschäfte nicht öffnen und nicht rausgehen. 80 Prozent haben mitgemacht, heißt es. Sowas nennt man dann stille Demonstration“, erklärt Farhad S. Er ist sich sicher: „Diese Sache wird nicht kalt werden, es wird immer mehr. Viele junge Menschen, darunter sehr viele, sehr mutige Frauen gehen auf die Straße. Und das große Wunder ist, dass jetzt auch immer mehr iranische Männer hinter ihnen stehen.“

Zwar hatte ich nur Mädchen eingeladen, aber irgendwie passte das der Sittenpolizei nicht.

Sarah S.

Wie es ist, als junge Frau im Iran zu leben, das weiß Sarah S. sehr genau. „Ich war mit 18 Jahren auch mal im Gefängnis dort“, erzählt sie. Der Grund? Sie habe ihren Geburtstag gefeiert. „Zwar hatte ich nur Mädchen eingeladen, aber irgendwie passte das der Sittenpolizei nicht. Sie sind in unser Haus gekommen und haben in meinem Zimmer ein Plakat von Michael Jackson gesehen, mit einem Autogramm von ihm. Ich hatte das auf dem Schwarzmarkt erstanden, aber die dachten, ich hätte Kontakt mit ,Michael’, weil da ja seine Unterschrift drauf war“, berichtet Sarah S. und macht deutlich, dass das, was für Frauen hier unvorstellbar ist, die Realität der Iranerinnen bedeutet.

„Wenn du nichts anderes siehst und nichts anderes kennst, dann lebst du erst einmal damit. Aber mit dem Wissen, was hier in Deutschland und Europa möglich ist und was man hier als Frau alles darf, tut es mir Leid für meine Landsleute, wie sehr sie dort um Dinge kämpfen müssen, die hier selbstverständlich sind“, meint sie.

Angst vor Verhaftung

Farhad S. will eigentlich schon seit drei Monaten in den Iran, um seine Familie wiederzusehen. „Ich fliege sonst immer zweimal pro Jahr. Aber jetzt hat das deutsche Außenministerium davor gewarnt und ich habe Angst, dorthin zu gehen. Auch meine Familie sagt, dass ich lieber nicht kommen soll.“ Darüber, dass auch in Deutschland immer wieder Menschen auf die Straße gehen, sind er und Sarah S. froh. „Ich bin stolz, wie viele Leute in Berlin zur Demonstration gegangen sind. Im Iran wurde dazu übrigens berichtet, dass die Menschen wegen der steigenden Energiepreise hierzulande auf die Straße gegangen seien“, erzählt sie.

Sowohl Sarah als auch Farhad S. nennen dreierlei, wenn sie daran denken, was sie sich für ihr Land wünschen: „Frauen, die eine Stimme bekommen, Freiheit, Leben.“ Und auch darüber, was man von hier aus für den Iran tun kann, sind sie sich einig. Er sagt: „Es ist wichtig, dass berichtet wird. Wir können nicht nur, wir müssen auch eine Stimme der Leute sein. Die Aufmerksamkeit für das, was passiert, darf nicht aufhören.“