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Stalking

Strategien gegen die digitale Hetze

Friedrichshafen / Lesedauer: 4 min

Wie der Münchener Journalist Richard Gutjahr von der Zielscheibe zum Kämpfer wurde
Veröffentlicht:20.09.2018, 19:22

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Richard Gutjahr hat erlebt, was Hass und Hetze im Netz im Leben einer Familie anrichten können. Beim Bodensee Business Forum hat er seine Geschichte, seinen Kampf vorgestellt. Gemeinsam mit Michael Blume , dem Antisemitismusbeauftragten der baden-württembergischen Landesregierung, diskutierte Gutjahr, welche Strategien gegen die anonyme Hetze helfen.

Hinter ihm steht der Hass, der ihn verfolgt. Während Gutjahr erzählt, was ihm widerfahren ist, sind sie immer wieder auf der Leinwand zu sehen: die Tweets, Videos und Facebook-Beiträge, die das Leben seiner Familie zur Hölle machten. „Medienhure“ wird er dort genannt. Auch „Crisis actor“, also „Krisenschauspieler“, ist noch eine der harmloseren Bezeichnungen. Ihm und seiner Familie werden die schlimmsten Tode gewünscht. Das meiste ist nicht zitierfähig. Getroffen hat ihn dieser Hass durch Zufall und die Macht des Internets. Zufällig war Richard Gutjahr einer der ersten Journalisten, die vom Lkw-Anschlag in Nizza berichteten – weil er dort Urlaub machte. Vom Hotelbalkon aus filmte er am 14. Juli 2016 die Parade zum Nationalfeiertag, als ein Lkw-Fahrer seinen Wagen in die Menschenmenge lenkte. 86 Menschen starben.

Ein „Shit-Tsunami“ bricht über die Familie herein

Zufällig, weil er dort wohnt, war Gutjahr auch in München schnell vor Ort, als ein 18-Jähriger am Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen erschoss. Allein seine Anwesenheit hier wie dort – und die Tatsache, dass seine Frau Jüdin ist – ließ über seine Familie hereinbrechen, was er „Shit-Tsunami“ nennt: Hass, Antisemitismus und Stalking der schlimmsten Sorte. YouTuber und Blogger verbreiteten absurde Verschwörungsmythen über ihn, schrieben hämische Lieder, erkoren ihn und seine Frau zu Auslösern allen Übels dieser Welt. Staatsanwälte und Polizei, Facebook und YouTube konnten oder wollten nicht helfen.

Ein Jahr lang schwieg Gutjahr, hoffte, dass die Welle vorüberziehen würde. Doch aus wenigen Videos und Hassmails wurden Tausende. Namen, Adressen und Interessen von Frau und Kind wurden im Internet verbreitet, Todesdrohungen aus der ganzen Welt landeten täglich im Postfach. Dann, so erzählt Gutjahr rund 80 Zuhörern, „fasste ich einen Entschluss: Schlag zurück!“ Inspiriert habe ihn dazu der US-Amerikaner Lenny Ponzer. Ein Familienvater, der seinen Sohn bei einem Schulamoklauf verlor und fortan ebenfalls als „crisis actor“ bezeichnet wurde, der den Hass des Internets erlebte. „Ich musste lernen, dass man den Erzählungen der Verschwörungstheoretiker die eigene entgegenhalten muss“, sagt Gutjahr. „Abzuwarten hilft nicht. Diese Leute sind keine Trolle. Das sind professionell organisierte Kriminelle.“

Zum Glück gebe es gegen diese Kriminellen aber wirksame Strategien. Wie diese funktionieren, wird beim anschließenden Workshop mit Gutjahr und dem Antisemitismusbeauftragten Michael Blume deutlich. Für den Andrang reicht der kleine Raum im Zeppelinhaus kaum aus. Vor allem junge Gäste sammeln sich dicht gedrängt. Es ist die Generation Internet, jeder hat das Smartphone vor sich auf dem Tisch.

Gutjahr nimmt seins aus der Tasche, wiegt es langsam in Händen. „Das hier ist eine Waffe. Machen wir uns nichts vor“, sagt er. Ein Tweet, ein Like oder eine geteilte Falschnachricht könne ein Leben zerstören. „Wir geben diese Dinger an unsere Kinder. Aber keiner zeigt ihnen, wie sie damit umgehen können.“

Der neue Hexenhammer

Dass sich der Hass im Netz rasend schnell ausbreiten kann, weiß auch Michael Blume. Der Religionswissenschaftler vergleicht das Aufkommen der neuen Medien mit der Erfindung des Buchdrucks: „Neue Medien bieten immer Plattformen für Verschwörungsmythen. Denken Sie an den Hexenhammer von 1486.“ Fake News in Buchform. Als Gegenstrategie empfiehlt er ebenfalls, den Lügen eigene Narrative entgegenzustellen. „Wir stehen am Scheideweg: Es kommt jetzt darauf an, ob die liberale Demokratie überlebt.“

Richard Gutjahr stimmt zu: „Das, was im Netz passiert, ist kein Spaß. Und es geht uns alle an. Wir müssen verhindern, dass die Lauten alle anderen übertönen, die Diskussionen beherrschen.“ Viel zu lange habe man die Entwicklungen im Internet verpasst, Staatsanwälte und Polizei seien noch heute teils völlig ahnungslos. Im Raum folgen die Zuhörer den Ausführungen gespannt, manche tragen bei, fragen konkret: „Was können wir tun?“ Mehr digitale Bildung hilft, sagen Gutjahr und Blume. Die Wortführer auszumachen, ihnen entgegenzutreten. Aber vor allem: „Wir alle müssen die Stimme erheben, laut sein, auch mal emotional werden“, sagt Gutjahr. Noch bestehe die Chance, dass Europa und die Welt gegen Populisten, Antisemiten und Kriminelle ankämpfen, sie besiegen könnten. Das alte Prinzip, dass man Trolle, also Verbreiter falscher Nachrichten, nicht füttern solle, „kann dann aber nicht mehr gelten. Wenn jeder von uns ein klein wenig Verantwortung übernimmt, erleben wir 2040 eine wunderbare digitale Welt.“