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Kriminelles Bandenwesen weitet sich aus

Ulm / Lesedauer: 7 min

Schon in vergangenen Jahren sind in Ulm Rocker aufeinander losgegangen. Nun machen zwei neue Gruppierungen der Polizei Sorgen
Veröffentlicht:27.03.2017, 18:58

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Schon in vergangenen Jahren sind in Ulm Rocker aufeinander losgegangen. Nun machen zwei neue Gruppierungen der Polizei Sorgen.

Die Ulmer Innenstadt wirkt im Allgemeinen recht aufgeräumt und gepflegt – eine City zum Flanieren für brave Bürger. Umso mehr fällt es auf, wenn weniger brave Mitmenschen in Hordenstärke unterwegs sind. Dies war Mitte März mal wieder der Fall. Eine etwa 50-köpfige Bande bewegte sich durch die Schwilmengasse im beschaulichen Fischerviertel. Von einer rockerähnlichen Gruppe ist vonseiten der Polizei die Rede. Damit meint sie jene Schläger, die zwar nicht mehr Motorrad fahren, aber so ähnlich wie traditionelle Rockervereine organisiert sind. Jedenfalls witterten die Beamten Ungemach. Mittels eines Großeinsatzes wurde die Bande gestoppt.

Wer sich hinter dem Schlägerkommando verbirgt, wurde bisher nicht mitgeteilt. Wolfgang Jürgens , Sprecher des Ulmer Polizeipräsidiums, sagte Journalisten nur: „Es hätte gefährlich werden können.“ In der Stadt gehen aber Szene-Insider von einer Verbindung zu einem Zwischenfall am örtlichen Schwörmontag im vergangenen Juli aus. Schauplatz war die Hafengasse hinter dem Münster, gesäumt von kleinen Läden und Lokalen. Seinerzeit gab es dort noch einen veganen türkischen Imbiss. Nach Augenzeugen tauchten plötzlich etwa 15 zum Teil maskierte Männer auf und attackierten das Geschäft. Sie warfen Steine in die Scheiben. Zwei Gäste wurden direkt angegriffen.

Streit im Rotlichtmilieu

Für Ulm stellt sich vor dem Hintergrund der beiden Zwischenfälle die Frage, ob die örtlichen Bandenkonflikte inzwischen definitiv die bürgerliche Welt der Stadt erreicht haben. Ein Novum sind solche Auseinandersetzungen an der Donau zwar nicht. Aber von wenigen Ausnahmen abgesehen, lagen die Schauplätze eher an jenen Örtlichkeiten, an denen sie der gesittete Teil der Einwohnerschaft auch vermuten würde: etwa im Rotlichtmilieu an der Blaubeurerstraße, einem Gewerbeviertel neben dem Güterbahnhof. Dort fielen in den vergangenen Jahren mehrmals auch Schüsse, wohl eher als Warnung gedacht. Zu Schaden kam niemand. 2012 gab es dafür einen Toten und einen Schwerverletzten im Neu-Ulmer Industriegebiet. Rocker und Türsteher aus dem Rotlichtmilieu waren für eine Aussprache aufeinandergetroffen. Sie lief aus dem Ruder. Ein Rocker schoss.

Die erwähnten Zwischenfälle betrafen größtenteils klassische Banden, die sich auch noch als Motorcycle Club verstanden. In verschiedenen Prozessen zeigte sich, dass wohl der Ortsverein der Bandidos involviert war. Zudem eine kleine Gruppe namens Rock Machine sowie ein Ableger davon. Bereits nicht mehr in dieses Muster passten die 2004 gegründeten United Tribuns. Sie setzen sich vor allem aus Menschen zusammen, die ihre Wurzeln auf dem Balkan haben. Motorradfahren spielt keine Rolle. Weshalb sie von der Polizei ebenso in die Rubrik rockerähnliche Gruppierungen verräumt werden.

Wer hatte es nun aber aktuell in der Ulmer City aufeinander abgesehen? Die Spur führt zu zwei Neulingen in der deutschen Bandenszene: den nationaltürkisch orientierten Osmanen Germania und der kurdisch geprägten Bahoz, zu deutsch „Sturm“. So gelang es den Ermittlern nach dem am vergangenen Schwörmontag durchgeführten Angriff auf den türkischen Imbiss, acht Tatverdächtige festzunehmen. Die Staatsanwaltschaft sieht in ihnen mutmaßliche Bahoz-Angehörige. Desweiteren sickerte durch, dass zumindest einer der verprügelten Imbissgäste ins Osmanen-Umfeld gehört.

Womöglich sollte es jetzt im Fischerviertel eine Revanche geben – oder einfach die nächste Attacke. Polizeisprecher Jürgens ließ sich nach dem Ereignis im Weiteren noch folgendermaßen zitieren: „Was sie konkret vorhatten, wissen wir nicht. Aber es war zu vermuten, dass sie den Konflikt suchen.“ Dieser Gedanke liegt bereits durch die Ausrüstung der Truppe nahe. Die Polizei fand fünf verbotene Messer, mehrere Paar Quarzhandschuhe zum besonders brutalen Zuschlagen, Pfeffersprays, zwei Hiebwaffen, einen Elektroschocker sowie weitere Taschenmesser.

Als Herkunftsort der Männer wurden Stuttgart, Göppingen und Günzburg genannt. Alle drei Städte haben eine aus der Türkei stammende Wohnbevölkerung, die sich wiederum in ethnische Türken und ethnische Kurden teilt. Ob nun Osmanen oder Bahoz-Angehörige aufmarschiert sind, lässt sich deshalb anhand der Herkunftsorte nicht konkret sagen. Im Zusammenhang mit der baden-württembergischen Landeshauptstadt gilt aber, dass sie seit Langem eine Kurdenhochburg ist. Nach wie vor gibt es in der Stuttgarter Gegend eine breite Sympathisantenszene der PKK , der in Deutschland als terroristisch verbotenen kurdischen Arbeiterpartei.

Bahoz soll Anfang 2016 entstanden sein. Der Großraum Stuttgart wird von der Polizei als Urzelle betrachtet. Ganz genau wissen sie das aber nicht. Hierzu würden solche Gruppen zu abgeschottet agieren. Eine irgendwie geartete Kooperation werde abgelehnt, heißt es von Ermittlerseite. An diesem Punkt herrscht also der gleiche Kodex wie bei den traditionellen Rockern oder auch wie bei der Mafia. Prinzipiell geht die Polizei davon aus, dass Bahoz ein Stück weit eine Nachfolgeorganisation der Red Legion ist. Diese extrem brutale Gruppe agierte bis zu ihrem Verbot 2013 in der Stuttgarter Gegend. Sie galt als PKK-nah und war in den regionalen Machtkampf um Einfluss im Türsteher- und Rotlichtmilieu beteiligt.

Auffallend bei Bahoz ist die Selbstklassifizierung als „antirassistisches, antifaschistisches Projekt“. Dies verweist auf die in ihrem Grundverständnis sozialistische PKK. Die Polizei sieht in Bahoz ein „Sammelsurium kurdischer Personen mit unterschiedlichen Standpunkten“. Welche Agenda sie letztlich verfechten, lässt sich ebenso wenig definitiv sagen. Ein Freundeskreis? Eine Interessensgruppe zur Sicherung von Geldquellen im Bereich von Diskotheken-Eingängen, Bordellen, Frauen-, Drogen- und Waffenhandel? Eine politische Stoßrichtung? Vielleicht von allem etwas, sagen Polizeibeamte.

Einen konkreten Anlaufpunkt für Bahoz-Recherchen gibt es nicht, weder Vereinsheime noch notorische Kneipentreffpunkte. „Hier spielt sich vieles in den sozialen Medien des Internets ab“, erklärt Ulrich Heffner, Sprecher des Landeskriminalamtes in Stuttgart. Zumindest lässt sich ein Facebook-Auftritt von Bahoz Ulm finden. Er ist zwar inzwischen geschlossen, lässt aber einige Einblicke zu. Das Feindbild umfasst dabei ganz klar die örtlichen Osmanen. Sie werden als „Dönerdiskriminiert sowie als „faschistische Hunde“ bezeichnet.

Innertürkische Konflikte

Heffner befürchtet, dass durch Gruppen wie Bahoz und Osmanen neben dem rein kriminellen Aspekt zudem „ausländische Konflikte nach Deutschland hineingetragen werden“. Das scheint durchaus naheliegend. Bei den Osmanen ist bereits der Name Programm. Er geht auf das einstige, von Türken dominierte riesige Osmanische Reich zurück. Dieses historische, mit dem Ersten Weltkrieg untergegangene Imperium spielt sinnigerweise in der aktuellen Politik ein Rolle: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erinnert sich gerne an dessen Glanz. Die deutschen Osmanen entstanden nach unterschiedlichen Angaben 2014 oder 2015. Sie nennen sich Boxclub. Nach Informationen des Verfassungsschutzes gibt es Kontakte zu den „Grauen Wölfen“, einer nationalistischen türkischen Organisation.

Die Osmanen gelten als eine der am schnellsten wachsenden Gruppen im Bandenmilieu. In der Eigendarstellung möchten sie zu den Guten gehören. Im Rahmen einer Film-reportage des Westdeutschen Fernsehens gelingt es ihnen, diese Botschaft auch an den Mann zu bringen. Die Anführer stellen sich als fürsorgliche Onkels dar, die junge Menschen mittels Boxclub vor dem Absturz in die Kriminalität bewahren. Der polizeiliche Blick auf die Osmanen ist differenzierter. Seit November gab es im Bundesgebiet zwei Großrazzien bei deren Mitglieder. Es ging unter anderem um Drogenhandel, Erpressung und Geldwäsche. In Saarbrücken wird ein Osmane verdächtigt, eine von Bahoz kontrollierte Schisha-Bar mit einer Handgranate heimgesucht zu haben. In Stuttgart und Ludwigsburg kam es während des Spätherbstes im Bandenmilieu zu Brandanschlägen auf Autos mit kurdischem Besitzer. Die Polizei geht von osmanischen Aktionen aus.

Anfang 2017 war hingegen ein Osmanen-Umfeld in Bietigheim-Bissingen Ziel eines Anschlags. Aus einem Auto heraus wurden mehrere Schüsse auf eine Personengruppe abgegeben – wohl von Bahoz-Leuten, mutmaßt das Landeskriminalamt. Neben allen anderen alarmierenden Gesichtspunkten findet es noch eine weitere Entwicklung für höchst gefährlich. Sie hat auch mit den Ulmer Zwischenfällen zu tun. „Während die traditionellen Rocker ihre Streitigkeiten vor allem intern ohne öffentliches Aufsehen regeln wollten, versuchen die neuen Banden ganz offen und aggressiv, Plätze, Straßen, Viertel oder ganze Städte für sich zu vereinnahmen“, heißt es aus dem Landeskriminalamt. Für jeden sichtbare Machtdemonstrationen würden den Besitzanspruch nur noch unterstreichen.

Das Ulmer Polizeipräsidium hat in diesem Zusammenhang bereits mehrmals betont: „Diese Auseinandersetzungen werden nicht geduldet.“ Den verfeindeten Gruppen würden zudem „klare Grenzen“ gesetzt. Hierzu sind auch speziell für das Bandenmilieu abgestellte Beamte unterwegs. Wie Insider aus der Szene berichten, versuchen sie den Schlägergruppen klarzumachen, dass „die Blauen das Sagen haben“, also die blauuniformierte Polizei Baden-Württembergs.