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Der jüngste SPD-Chef der Republik ist erst 18

Ulm / Lesedauer: 8 min

Der SPD-Kreisverband Alb-Donau hat den Ehinger Zwölftklässler Julius Bernickel zum Vorsitzenden gewählt – das passt nicht allen.
Veröffentlicht:28.03.2018, 18:28

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Zuerst glaubt Julius Bernickel, er hört nicht richtig, als die SPD-Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis kurz vor der Abstimmung über einen neuen Vorsitzenden des SPD-Kreisverbands Alb-Donau aufsteht und sagt: „Kann man einem, der gerade 18 Jahre alt geworden ist, dies alles aufladen?“

Den Mitgliedern stockt der Atem, denn Mattheis, selbst 63 Jahre alt, argumentiert in ihrer kurzen Rede gegen den einzigen Kandidaten. Gegen Bernickel, der sich fragt, was er als junger, engagierter Mensch falsch gemacht haben könnte. Später wird Lutz Deckwitz, der stellvertretende Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Ehingen mehr als verärgert sagen: „Was Hilde macht, ist Demontage des Kandidaten!“

Szenenwechsel: Ein paar Tage später blickt der 18-Jährige von der Speisekarte auf und sagt: „Ich bin politisch in der SPD angekommen.“ Julius Bernickel, nach seiner Wahl – die auch Hilde Mattheis schließlich nicht verhindern konnte – die jüngste SPD-Führungskraft Deutschlands, versucht zur Mittagszeit in einem Ehinger Gasthof so entspannt wie möglich zu wirken: schlanke, große Statur. Schwarzes Hemd, schwarze Hose. Dickes braunes Haar mit einer angedeuteten Tolle. Er kommt gerade vom Schulunterricht, 12. Klasse Gymnasium. „Ich werde heuer das Abitur machen“, sagt Bernickel mit einer Überzeugung, die keinen Spielraum für Zweifel lässt, dass da noch etwas dazwischenkommen könnte. Außerdem:

„Ich bin ehrlich – ich mache nicht so viel für die Schule.“

Vielleicht würde es bei mehr Einsatz für einen Schnitt mit einer Eins vor dem Komma reichen. Aber das mit dem Büffeln sei halt nicht so seins.

Es gibt im Leben des jungen Ehingers eben auch jetzt schon Wichtigeres, zum Beispiel die Politik, für die er täglich „mehrere Stunden“ aufwende. Denn er ist eben nicht nur knackfrischer Vorsitzender des SPD-Kreisverbands Alb-Donau, sondern auch noch aktiv bei den baden-württembergischen Jusos. Sein nächstes Ziel beruflich: Studium der Psychologie in Mannheim. Sein nächstes Ziel politisch: „Wer weiß?“

Wer gilt eigentlich als jung?

Die Debatte über junge und alte Parteien und deren Veränderungen, Häutungen, Erneuerungen und schließlich Verjüngungen erlebt gerade eine Art Hochsaison: Das schöne Lied von der SPD-Auffrischung wirkt in den Ohren vieler Wähler inzwischen allerdings fast schon wieder überaltert. Und doch wird es gerade jetzt, wo der Koalitionsvertrag sozusagen amtlich ist und eine 63-jährige Frau zum vierten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt wurde, immer lauter gesungen. Gerne von jenen Genossen, die sich selbst als junge Generation innerhalb der Partei wahrnehmen, ohne dass der Begriff „jung“ je wirklich genauer definiert wird. Ist die designierte Parteivorsitzende Andrea Nahles mit 47 Jahren jung, nur weil sie einen mit 62 Jahren noch älteren Martin Schulz, der selbst als Erneuerer angetreten war, ablöst?

Mehr als 88 Prozent Zustimmung

Darauf hat auch Julius Bernickel keine Antwort: Seine eigene Jugendlichkeit will dem Ehinger aber gewiss keiner absprechen. Der 18-Jährige ist jung mit Haut und Haaren – sowohl biologisch als auch in seiner Rolle als Vorsitzender des SPD-Kreisverbands Alb-Donau. Der Nächstältere, der bei den Genossen solch ein Amt bekleidet, ist 24. Mehr als 88 Prozent Zustimmung hat er bekommen. Der neue SPD-Bundesfinanzminister Olaf Scholz könnte mit seinen 59 Jahren locker sein Opa sein.

Selbst Juso-Chef Kevin Kühnert sieht mit 28 gegen Bernickel ein bisschen alt aus. Wie fühlt man sich also, wenn man als Politiker wirklich jung ist in einer SPD, die als älteste Partei Deutschlands weit älter ist als das Deutschland heutiger Prägung selbst?

„Ich fühle, dass ich der Aufgabe gewachsen bin.“

Neue Besen kehren gut. Was aber gibt konkret Anlass zur Hoffnung, dass Julius Bernickel auch tatsächlich zum parteipolitischen SPD-Feger wird? Zunächst einmal: Er ist bereit. „Als mich mein Vorgänger Bernhard Gärtner gefragt hat, ob ich mir vorstellen kann, Kreisverbandsvorsitzender zu werden, habe ich nur zwei Sekunden gebraucht, um Ja zu sagen.“ Der 18-Jährige blickt aus blauen Augen mit einem fast schüchternen Lächeln, als er davon erzählt. Dennoch wirkt Bernickel in der Situation des Interviews viel weniger unsicher, als sein Alter hätte vermuten lassen. Er ist darauf bedacht, gerade zu sitzen. In regelmäßigen Abständen zupft er mit Daumen und Zeigefinger den Stoff seines ausgezeichnet gebügelten Hemdes noch glatter.

Zu jung, zu neoliberal

Von der fehlenden Erfahrung abgesehen, wählt er seine Worte sorgfältig. Seine Art zu sprechen ist bestimmt und flüssig. Gelegentlich blitzt sogar etwas Leidenschaft durch. Etwa als er von dem Ärger berichtet, den die SPD-Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis durch ihr allenthalben als merkwürdig eingestuftes Verhalten im Vorfeld seiner Wahl verursacht hat. Besonders pikant: Die Politikerin vom SPD-Kreisverband Ulm war als nicht stimmberechtigter Gast anwesend und hat den 18-Jährigen alles andere als unterstützt: zu jung, zu neoliberal.

Mattheis gehört als Vertreterin des linken SPD-Flügels zum Lager derer, die den neuerlichen Eintritt ihrer Partei in eine Große Koalition nicht nur für falsch halten, sondern als beschleunigenden Faktor des Niedergangs fürchten. Was aber hat Matheis gegen Bernickel? Kennt sie ihn überhaupt gut genug, um ihn ablehnen zu können? Mattheis antwortet darauf auf telefonische Anfrage der „ Schwäbischen Zeitung “ nicht, weil sie bereits die Frage „nicht gut“ finde. Das aber war es dann schon, bis auf den Satz, mit dem in den letzten Tagen auch schon andere Journalisten abgespeist wurden: „Kritik äußere ich immer dort, wo die Leute sind, aber nicht über die Presse.“

Kritik an Mattheis von der Fraktionschefin

Obwohl Bernickel stets darauf achtet, nichts Falsches zu sagen, hat ihn diese Ablehnung getroffen. Er sagt über Mattheis: „Sie hat sich immer in die erste Reihe gestellt, wenn es um Erneuerung ging. Was sie da aber jetzt gemacht hat, zeugt von einem veralteten Denken.“ Wem hätte es nützen sollen, vor Bernickel zu warnen, der als einziger Kandidat parat stand? Kopfschütteln – nicht nur bei den Jungen, auch altgediente Genossen haben sich öffentlich und nichtöffentlich ihre Gedanken über Hilde Mattheis gemacht und sie sogar in der „Schwäbischen Zeitung“ getadelt: „Ihre öffentliche Kritik kann ich nicht verstehen, ich weiß nicht, was sie damit bezwecken wollte. Das alles ist mir schleierhaft. Diese Äußerungen schaden ihr, schaden Julius Bernickel und der Partei“, sagte zum Beispiel Klara Dorner, SPD-Fraktionsvorsitzende im Kreistag Alb-Donau-Kreis.

Beide waren gegen die GroKo

Hat Frau Mattheis sich inzwischen gegenüber dem Kreisverband Alb-Donau, dem der Gastauftritt der Bundestagsabgeordneten bis heute sauer aufstößt, erklärt? Mit Julius Bernickel zwischenzeitlich persönlich gesprochen oder wenigstens telefoniert? „Nein“, sagt der Abiturient und bestellt sich einen Teller mit Linsen, Spätzle und Saitenwürstle. Dabei verbindet den jungen Mann und Hilde Mattheis die Ablehnung der Großen Koalition. „Ich habe dagegen gestimmt, genau wie sie.“ Ansonsten habe er mit Einordnungen wie links, rechts oder Mitte nichts am Hut. „Für mich spielt es keine Rolle, weil es mir um die Sache geht.“ Pragmatismus wie er ihn verstehe, sei mit Flügeldenken nicht vereinbar. Als sein Teller kommt, beginnt er zunächst mit aufgestütztem Ellenbogen zu essen – korrigiert sich aber, als er sich bewusst wird, dass eine gerade Haltung eher zu ihm passt.

Ein Exot unter den Freunden

Besonders politisch sei es zu Hause nicht zugegangen. „Hier in der Gegend wird man normalerweise mit einem Parteibuch der CDU geboren.“ Mit 14 Jahren habe er bewusst nach den Inhalten der Parteien geschaut und sei eben bei den Genossen gelandet. Mit dem Versuch der Selbstironie sagt Bernickel: „Aber bis 14 war ich noch ein ganz normaler Jugendlicher.“ In seinem Freundeskreis sei er als politisch Aktiver schon ein Exot. Früher hat Bernickel viel Handball gespielt. Doch diese Leidenschaft sei der Politik gewichen, sonst hätte die Zeit nicht gereicht.

Und damit ist es weiter keine große Überraschung, dass sich Bernickel als „glücklichen Single“ bezeichnet. Da bleibe ihm mehr Freiheit, sich zu engagieren. Und für was konkret? „Ich finde, das mit der Pflege in unserer Gesellschaft geht gar nicht.“ Seine Eltern hätten beruflich damit zu tun. Daher die Sensibilisierung für das Thema. Großgeschriebene Begriffe auf Bernickels Agenda sind auch die Verbesserung der Infrastruktur in der Region („Am Wochenende fährt kein Bus“) und natürlich: die Digitalisierung. Solange Länder wie Rumänien die Nase gegenüber Deutschland vorne hätten, mache man sich als Wirtschaftsnation lächerlich.

Die nächsten Ziele schon im Blick

Und wer soll’s richten? „Die Leute meiner Generation“, sagt Julius Bernickel. Die Kevin Kühnerts. Den Juso-Bundesvorsitzenden hätte Bernickel sehr gerne im Berliner Parteivorstand gesehen. Und wie wird’s jetzt weitergehen – der Vorsitz in einem SPD-Kreisverband reicht doch so einem wie ihm nicht, oder? „Wir müssen abwarten, welche politische Laufbahn sich ergeben wird.“ Wenn es mit der Politik nicht klappt, gibt es einen Plan B: „Dann werde ich selbstständig.“ Angestellt sein könne er sich nicht vorstellen. „Ich bin ein Rebell“, sagt er mit fester Stimme und lässt sich den Rest seines Mittagessens einpacken. Denn die Portion war ihm dann doch zu groß.