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Augustputsch

30 Jahre Augustputsch: Als die Welt den Atem anhielt

Laichingen / Lesedauer: 5 min

SZ-Mitarbeiterin Gabriele Reulen-Surek erlebte den Augustputsch in Moskau vor exakt 30 Jahren hautnah – Sie blickt zurück auf eindrückliche Erinnerungen
Veröffentlicht:18.08.2021, 18:59

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Exakt vor 30 Jahren, am 19. August 1991, fahren Panzer auf dem Roten Platz in Moskau auf. Der Zweck dieser Aktion: Die Regierung des Reformers Michail Gorbatschow soll gestürzt werden. Hautnah miterlebt hat das Stück Weltgeschichte SZ-Mitarbeiterin Gabriele Reulen-Surek . Nach dem Besuch einer Schülergruppe von der Krim im Graf-Eberhard-Gymnasium Bad Urach, wo Reulen-Surek tätig war, erhielt sie eine private Einladung von der Leiterin der sowjetischen Gruppe, Ljubow Iwanowna, Bürgermeisterin in Simferopol auf der Krim. Drei Wochen verbrachte Familie Surek in der damaligen Sowjetunion.

Als wir – mein Mann, unsere beiden Söhne Florian (9 Jahre), Johannes (7) und ich - an jenem Morgen schon früh von unserem Gastgeber in Berlin geweckt werden, ahnen wir nicht, welch erschreckende Bilder uns gleich im Fernsehen erwarten. Am Abend zuvor sind wir von einer dreiwöchigen Reise in die Sowjetunion zurückgekehrt. Noch vor 24 Stunden haben wir einen Spaziergang über eben jenen Roten Platz gemacht, und alles war friedlich. Von unseren Freunden, den Sängern des Moskauer Stanislawski-Musiktheaters, hatten wir uns mit vielen Umarmungen und mit der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen bei Konzerten in Deutschland im Herbst verabschiedet.

Emotionale Situation

Nun aber sitzen wir fassungslos vor dem Fernseher in Berlin. Alles scheint darauf hinzudeuten, dass die Sowjetunion wieder in alte Muster zurückfallen wird. Der Reformkurs Gorbatschows soll beendet werden. Unsere Kinder, welche in den drei Wochen auf der Halbinsel Krim und in Moskau wunderschöne Tage erlebt haben, spüren trotz ihres jungen Alters den Ernst der Situation, während mir Tränen übers Gesicht laufen. Wird es in Zukunft noch Besuche unserer Freunde und Freundinnen im Westen geben?

Noch ist nicht bekannt, was mit Gorbatschow und seiner Ehefrau Raissa passiert ist. Die Putschisten sprechen von einer Krankheit. Wir aber wissen, dass er sich zum Urlaub auf der Krim aufgehalten hat. Bei einer Bootsfahrt wurde uns sogar seine Datscha von weitem gezeigt. Ein paar Stunden später wird bekannt, dass der sowjetische Präsident bereits am Vortag mit seiner Familie im Haus auf der Krim arretiert wurde.

Menschen stehen stumm beisammen

Uns hält nichts mehr in der Wohnung unseres Freundes. Wir fahren in die Stadtmitte. Zunächst geht es durch das Brandenburger Tor hindurch. Dies machen wir dreimal, denn wir waren seit dem Fall der Berliner Mauer noch nicht an der früheren Grenze. So bewegen wir uns wie in Trance und müssen uns vergewissern, dass es wirklich keine Mauer mit Stacheldraht mehr an dieser Stelle gibt. Immerhin hatte ich zwölf Jahre im Westteil der Stadt gelebt und nichts anders als diese schreckliche Grenze gekannt. Unsere Aufmerksamkeit wird dann auf eine immer größer werdende Menschenmenge vor der Botschaft der Sowjetunion Unter den Linden gelenkt. Auf den Stützmauern des sie umgebenden Zauns brennen viele Lichter. Menschen stehen stumm beisammen. Ein älterer Mann, offensichtlich aus dem Ostteil der Stadt, sagt mit tränenerstickter Stimme: „Ihm verdanken wir unsere Freiheit. Und nu werden se ihn einsperren.“ Zunächst aber werden die Gehwege vor der Botschaft von Berliner Polizei abgesperrt, da Ausschreitungen befürchtet werden.

Große Demonstration in Berlin

Etwas später findet am Breitscheidplatz vor der Gedächtniskirche eine Demonstration für die Freilassung von Michail Gorbatschow statt. Und am Gebäude „Kudamm-Eck“ werden auf einer riesigen Lichtraster-Werbefläche ständig neue Nachrichten aus der UdSSR eingeblendet. Da erst wird uns bewusst: Wir haben den letzten Flug von Moskau nach Berlin erwischt, bevor für Tage alles abgeriegelt wurde! Der Putsch wird in wenigen Tagen beendet sein. Boris Jelzin ist es gelungen, Miliz und Armee gegen die Putschisten zu vereinigen. Gorbatschow ist sichtlich geschwächt, sowohl mental als auch körperlich. Und so sind auch die Bilder unvergesslich, wie Jelzin sich als neues Staatsoberhaupt geriert und Gorbatschow vorführt wie einen alten Tanzbären.

Im Rückblick wird uns klar, dass es bereits während unseres Aufenthalts auf der Krim Anzeichen für eine brenzlige Situation gab. Während bei uns im Land Gorbatschow hoch angesehen war, sahen ihn die Menschen im eigenen Land sehr kritisch.

Explosives Brodeln in der Luft

Im Vergleich zu den 70er-Jahren, als ich die Sowjetunion häufig bereist hatte, herrschte jetzt ein Mangel an Gütern des täglichen Bedarfs. In den Straßen von Simferopol gab es satirische Protestgesänge gegen die Regierung. Befragte ich Menschen, so ließ kaum einer ein gutes Haar an Gorbatschow. Ihm allein wurde die Schuld für die wirtschaftliche Misere zugeschoben. Dass er mit seiner Politik der Glasnost gerade auch die offene Kritik ermöglichte, wurde nicht gesehen. Und es gab Gerüchte, es habe ein Attentat auf ihn in seiner Datscha gegeben. Irgendein explosives Brodeln war da in der Luft.

Auch das Verhalten unserer Gastgeberin Ljuba bei unserer Abreise konnte ich erst im Nachhinein besser interpretieren. War sie während unseres Aufenthalts von überschäumender Gastfreundschaft gewesen, so hatten wir vor unserem Abflug fast den Eindruck, dass sie uns loswerden wollte. Zugleich aber zeigte sie sich überbesorgt. So wollte sie uns ausreden, bei Freunden von mir, einer Familie von Künstlern, in Moskau zu übernachten. Lieber wäre es ihr, sie wüsste uns bei „zuverlässigen Freunden“ untergebracht.

Vorahnung und Warnsignal für Freundin

Im Frühjahr 1992, bei meiner ersten Reise in die befreundete Stadt Neswisch in Belarus, traf ich Ljuba wieder. Sie war extra die 1500 Kilometer dorthin gekommen, damit wir uns sehen konnten. Da gestand sie mir, dass sie im August 1991 geahnt habe, dass sich etwas zusammenbraute, ohne genau zu wissen, was.

Ein Warnsignal sei für sie gewesen, dass sie keine Erlaubnis bekommen habe, uns den Marinehafen Sewastopol zu zeigen. Deshalb wollte sie uns schnell in Sicherheit wissen. Als wir Simferopol verließen, wurde etwa zur gleichen Stunde Gorbatschow in seiner Datscha inhaftiert. So ist in unserer Erinnerung ein wunderschöner Urlaub mit unglaublich nachhaltigen Eindrücken – gleichzeitig verknüpft mit einem Stück dramatischer Weltgeschichte.