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Uraufführung

Uraufführung in Stuttgart: Eine Tragödie der Technik

Stuttgart / Lesedauer: 4 min

Die Uraufführung „Der Triumph der Waldrebe in Europa“ lässt einen toten Jungen virtuell weiterleben
Veröffentlicht:17.10.2022, 17:00

Von:
  • Schwäbische.de
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Der Junge ist tot. Ein Unfall hat den Achtjährigen aus dem Leben gerissen. Renate und Konrad haben ihren David beerdigt, trotzdem wollten sie ihn aber nicht einfach „wegsperren, vergessen, verscharren“. Deshalb lebt er weiter, spielt mit dem Papa, plaudert mit Journalisten und geht sogar in die Schule. Nun allerdings haben die Lehrer beschlossen, dass damit Schluss ist. Ein Kind, das nur noch virtuell existiert, habe kein Anrecht auf Unterricht.

Es ist nicht so abwegig, dass schon bald wahr werden könnte, was sich der österreichische Autor Clemens J. Setz ausgedacht hat. Sein neues Stück „Der Triumph der Waldrebe in Europa“ verhandelt die Frage, was die Identität eines Menschen ausmacht. Künstliche Intelligenz kann längst Existenzen konstruieren, die Kundengespräche führen oder Wähler manipulieren. Da ist es durchaus denkbar, dass auch Tote im virtuellen Raum weiterleben.

Virtuelle Personen sind im Theater schwer darzustellen

Am Computer kann man leicht eintauchen in künstliche Welten, auf der Bühne lassen sich virtuelle Personen allerdings nicht gar so einfach darstellen. Deshalb wird im Stuttgarter Kammertheater, wo das Stück nun uraufgeführt wurde, ein Rollstuhl auf die Bühne geschoben, auf dem eine Kamera und allerhand Technik montiert wurden. Das ist David, ein computergesteuertes Etwas, das über Textbotschaften kommuniziert. Die Mutter tippt sie ins Tablet ein – andere Eltern würden ihren behinderten Kindern schließlich auch bei dem helfen, was diese nicht können.

Wer darf über Leben und Tod entscheiden? Die Mutter ist überzeugt: Nur Eltern haben das Recht, ein Kind sterben zu lassen. Auch wenn das Stück diese gesellschaftliche Debatte anklingen lässt, ist das Thema schnell skizziert, zumal es Clemens J. Setz nicht um das Leid dieser Eltern und deren psychische Verfasstheit geht. Stattdessen verhandelt der Autor die mediale Aufmerksamkeit und den Shitstorm, der im Netz losbricht, weil zahllose Menschen meinen, ihre eigene Meinung zu der Causa David kundtun zu müssen.

Die einen ergreifen Position für die Eltern, andere ereifern sich. Lieder werden über den Jungen geschrieben, Hassbotschaften verbreitet und sogar „Kill-Listen“ verfasst. Nicht nur die Mutter, auch der YouTuber Tim (Jannik Mühlenweg) wird zur Zielscheibe in der medialen Aufregung und als Mörder beschimpft, weil er dieser virtuellen Kreatur das Leben abspricht.

„Der Triumph der Waldrebe in Europa“ gelingt nicht an jeder Stelle

Die Personen, die Clemens J. Setz konstruiert, sind sprachlich nicht allzu versiert, sie stottern unfertige Sätze heraus, verhaspeln sich, vermutlich ist das ein Versuch, die unterkomplexe Sprachkultur des Netzes aufs Theater zu übertragen. Das wirkt bemüht wie auch das in die Länge gezogene Interview mit der Mutter, bei dem es Probleme mit der Technik zu geben scheint, sodass Renate sich zunehmend verheddert und verzweifelt. Loriot lässt grüßen.

Auch der Regisseur Nick Hartnagel will vor allem witzig und originell sein. Die Kostümbildnerin Tine Becker hat den Figuren futuristische Mode mit schrägen Klamotten und Kochtopffrisuren verpasst. Auch das Bühnenbild von Yassu Yabara lässt kein Konzept erkennen: Eine Wohnung wird angedeutet, deren Grundriss in platter Symbolik ein Kreuz darstellt und deren Wände durch Vorhänge ersetzt wurden. Die sorgen allerdings dafür, dass das Publikum alles, was dahinter passiert, wie durch einen störenden Filter wahrnimmt. Was außen, was innen, was realer und virtueller Raum ist, scheint sich das Team nicht überlegt zu haben.

Lichtblick an diesem Abend ist Therese Dörr als Mutter, die sich tapfer den Anfeindungen stellt und ihren tragischen Kampf wie Don Quixote austrägt. Dörr spielt sie als scharfsichtige Person, der Wahnideen fremd scheinen. Immer wieder fragt sie sich, wer hinter all den Briefen stecken mag, die sie bekommt, und vermutet, dass es ein und dieselben Personen sein könnten, die hier mehrfach schreiben. Letztlich spiegeln die Kommentare doch nur ihre eigenen widerstreitenden Gefühle wider.

Denn auch wenn der Schluss offen bleibt, wird ihr zunehmend klar, „was man ausblendet, weil es die ganze Zeit da ist“: ihr eigener tragischer Selbstbetrug.