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Theaterkritik: „WoW ‐ Word on Wirecard“ in München

München / Lesedauer: 2 min

Łukasz Twarkowski nimmt sich mit „WoW ‐ Word on Wirecard“ an den Münchner Kammerspielen nicht nur das undurchsichtige Geflecht eines Finanzskandals vor.
Veröffentlicht:21.11.2023, 05:00

Von:
  • Schwäbische.de
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Immersives Theater ist aus dem modernen Bühnenkanon nicht mehr wegzudenken. Dabei taucht das Publikum quasi körperlich in die Geschichte ein, mal mit, mal ohne Mitspielen. Ein Shootingstar in diesem Genre ist der polnische Regisseur Łukasz Twarkowski, der Film, Theater, Gaming und Rave zu Gesamtkunstwerken verschmilzt. Für „Loki“ erhielt er Litauens höchste Theaterauszeichnung. Am spektakulärsten geriet Twarkowski die immersive Mischung 2022 mit „Respublika“, einer Co-Produktion mit den Münchner Kammerspielen. Das Publikum durchstreifte in dem sechsstündigen Reenactment-Projekt vom Mythos der selbstverwalteten Paulava-Republik aus dem 18. Jahrhundert die Utopia-Halle, in der zahlreiche Häuschen aufgebaut waren, in denen es mit den Performern essen, sprechen, sogar mit ihnen in die Sauna gehen konnte. Und zum Schluss gipfelte alles in einem Rave für die, die mitmachen wollten.

Stück als filmisches Schauspiel angelegt

Für „WoW ‐ Word on Wirecard“ legt Twarkowski mit Stammautorin Anka Herbut und dem Ensemble der Münchner Kammerspiele den Finanzkrimi um die Firma Wirecard zugrunde: diesmal nicht als immersive Installation, sondern als filmisches Schauspiel in der Therese-Giehse-Halle. Fabien Lédé hat dort ein Großraumbüro in sachte angeranzter 70er-/80er-Jahre-Ästhetik errichtet, das man in der Pause auch begehen darf. Darüber ein riesiger Gaming-Bildschirm, auf dem Bilder herangezoomt und verdoppelt oder parallel zwei Zeitebenen gezeigt werden. Dafür filmen Paula Tschira und Johanna Seggelke fast durchgängig das Ensemble bei seinen Gängen durch Büro, Glaskästen und Flure. Es geht nicht nur um die Bürowelt von Wirecard, um Finanzmanipulation, die Befindlichkeiten der Angestellten, das Gelaber von Deepfake Jan Marsalek (Martin Weigel) oder die Beschwichtigungstiraden von Markus Braun (Stefan Merki), der ständig am Telefon hängt.

Twarkowski und Herbut bauen den Science-Fiction-Roman „Simulacron 3 oder Welt am Draht“ und seine Verfilmung 1973 durch den WDR und Rainer Werner Fassbinder ein. Außerdem jede Menge andere kulturelle Verweise. Bindeglied zwischen allen Ebenen dieses Matrix-artigen Fake-Universums ist Hal Stiller (Elias Krischke), der wie ein Untoter zwischen den Welten wandert. Und irritiert feststellen muss, dass keiner außer ihm sich an Carrie Lynch (Annette Paulmann) erinnert, die doch ein hohes Tier bei Simulacron war.

Schöne neue Datenwelt

Die überbordende Fülle an Infos, Bildern und Verweisen erinnert an ein Wimmelbild, bei dem man ständig neue Details entdecken kann. Oder sich verlieren und mit den Filmsequenzen der Wirecard-Party auf Lubomir Grzelaks teils überlautem Soundteppich dahingleiten. Twarkowski und Herbut haben trotz einiger Längen mit „WoW“ ein gerade in seiner Uneindeutigkeit beängstigendes Puzzle unserer schönen neuen Datenwelt ausgelegt, das die grundsätzliche Frage stellt: Wofür dürfen unsere Daten genutzt werden? Was ist noch echt? Und bei aller Verliebtheit in technische Perfektion scheut Regisseur Twarkowski Emotionen nicht und gönnt Stiller und Kass Vollmer (Alina Sokhna M’baye), der Tochter des Simulacron-Schöpfers, eine fast schon kitschige Liebesgeschichte.


Weitere Termine: 23., 24., 28., 29. November, 3., 6., 7., 11., 13., 26. Dezember. Karten unter: