Kultur

Sprachplauderei: Sündenbock und Legehenne

Ravensburg / Lesedauer: 3 min

In der heutigen Glosse wird ein Bogen gespannt von Walt Disneys Film „Die Wüste lebt“ über das Alte Testament bis zum Gender–Glottisschlag.
Veröffentlicht:09.06.2023, 05:00

Von:
  • Rolf Waldvogel
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Nenne einen Film, der dich als Kind besonders gepackt hat? Auf diese Frage fällt mir die Antwort leicht: „Die Wüste lebt“, der x–fach ausgezeichnete Walt–Disney–Dokumentarfilm aus den 1950ern über Flora und Fauna in kalifornischen Extremregionen. Wie da die Sandwüste nach dem Regen in einem Farbenrausch von Blüten schier explodierte — unvergesslich! Nebenbei bemerkt: Unvergesslich auch die beinharten Rasiersitze in Reihe 1, in der wir für 50 Pfennig saßen. Gerade läuft in den Kinos mit einem Riesenerfolg der SF–Film „Guardians of the Galaxy 3“, ebenfalls aus dem Disney–Imperium. Da kostet die Karte mal locker 15 Euro — auch eine Art Explosion.

Aber warum dieser Ausflug in die Wüste? Im Zusammenhang mit der Demissionierung von Robert Habecks Wirtschaftsstaatssekretär Patrick Graichen wollte ein Leser wissen, warum man jemanden in die Wüste schickt. Was es bedeutet, dürfte allgemein bekannt sein: Man entledigt sich einer Person, indem man sie wegschickt, entlässt, ihres Amtes enthebt. Wie so oft, haben wir es hier mit einer Redensart aus der Bibel zu tun. Im 3. Buch Mose (16, 21) wird das Ritual zum Versöhnungstag Jom Kippur beschrieben: Da legt der Hohepriester Aaron, der Bruder von Moses, beide Hände auf den Kopf eines lebenden Bockes, überträgt symbolisch alle Sünden der Israeliten auf ihn, lässt ihn dann in die Wüste treiben — und so kann sich das von seinen Freveln befreite Volk mit Gott versöhnen. Hier spielt auch jene zweite gängige Redensart herein, wonach man jemanden zum Sündenbock macht, sprich: ihn ungerechtfertigterweise beschuldigt, um ihm zu schaden oder ihn loszuwerden.

Nun ist der Hintergrund dieses alttestamentlichen Brauchs im wahrsten Sinn des Wortes todernst. Denn wer in die lebensfeindliche Wüste gejagt wurde, hatte eigentlich keine Chancen. Der Sündenbock — übrigens eine Wortschöpfung Martin Luthers — war dem Tod geweiht. Aber wie so üblich bei Redensarten, sind solche ursprünglichen Bedeutungen vielen Zeitgenossen kaum mehr bewusst. Sonst wäre der arme Patrick Graichen nicht quer durch alle Medien in die Wüste geschickt worden. Wobei er so arm ja gar nicht ist: Drei Monate bekommt er weiterhin sein 15 000–Euro–Gehalt, und dann gibt es erhöhte Ruhebezüge…

Weil wir jetzt schon etwas abgerückt sind vom biblischen Ernst, noch eine kleine Sottise zum Schluss: Neben der Wüste gibt es auch die Wüstenei — ein anderes Wort für wüste Einöde, wilde Gegend oder auch scherzhaft für eine schreckliche Unordnung. Nun könnte man in Zeiten des Gendersternchens versucht sein, dieses Wort Wüstenei einmal anders zu betonen, nämlich Wüsten–Ei, mit dem ominösen Glottisschlag zur Geschlechtsbestimmung, also dem kurzen stimmlosen Verschlusslaut vor dem folgenden Vokal. Und wenn wir es jetzt schon von Eiern haben: Diesen Glottisschlag brauchen wir an einer Stelle auch im nächsten Satz, den uns netterweise ein anderer Leser eingesandt hat. Hier der Nachruf auf ein Hochleistungshuhn: „Eierlegende Eierlegende kam an ihr Eierlegende.“ Eierleg*ende, wohlgemerkt.