Kultur
Neues vom New Pop Festival in Baden-Baden
Baden-Baden / Lesedauer: 4 min

- Stefan Rother
Vielversprechende neue Künstlerinnen und Künstler lassen sich regelmäßig beim New Pop Festival in Baden-Baden entdecken, manchmal sogar die ganz großen Stars von morgen. Darüber hinaus lässt sich aber auch oft einiges über den Stand des Musikgeschäfts lernen. Ein Trend der letzten Jahre ist der des „featured artists“ ‐ also entweder ein Auftritt als Gastsänger oder gleich die komplette Übernahme des Gesangs für ein DJ- oder Produzententeam. Das kann potenziell neuen Musikern den Eintritt ins Geschäft erleichtern, aber auch zum Fluch werden, wie sich im Fall der Londoner Sängerin Raye zeigt, deren Plattenfirma sie als Gastsängerin etablieren wollte und über Jahre ein eigenes Album verhinderte. Dies führte schließlich zum sehr öffentlich vollzogenen Bruch mit dem Label und in diesem Jahr erschien mit „My 21st Century Blues“ nun endlich ihr Debütalbum.
Die Geschichte widerspricht der oft vorgetragenen Position, dass im Streaming-Zeitalter mit seiner kurzfristigen Aufmerksamkeitsspanne das klassische Album eine überholte Kunstform ist. Gerade in der zunehmend unübersichtlichen Musiklandschaft, in der fast jeder mit jedem zu kollaborieren scheint, kann ein eigenes Album eine wichtige Positionierung für die eigene künstlerische Identität sein.
Raye hatte schon mit vielen Dämonen zu kämpfen
Wie wichtig und befreiend dieses Werk für sie ist, betonte Raye gleich zu Beginn ihres Auftritts in Baden-Baden. Die auf der Festspielhaus-Bühne stattfindenden New-Pop-Konzerte sind in der Regel für die breitenwirksameren Künstler ausgelegt, wie etwa die gutgelaunte Mimi Webb, die mit ihrer angerauten Stimme zwar auch einige persönlichere Dinge anspricht, in erster Linie aber gut unterhalten will. Ein sehr professioneller Auftritt, bei Raye wirkte aber jede Zeile so, als würde sie gerade erst in diesem Moment von ihr geschaffen ‐ die Musikerin trug ihre Songs nicht nur vor, sondern verkörperte sie. Damit schuf sie auf Anhieb eine intime Atmosphäre in dem großen Haus. In der ersten Hälfte herrschte eine jazzige Rhythm’n’Blues Atmosphäre. Vor allem beim Song „Mary Jane“ durchlebte und durchlitt Raye eine ganze Suchtkarriere auf der Bühne. Tatsächlich hatte die 1997 als Rachel Keen geborene Musikerin schon mit vielen Dämonen zu kämpfen ‐ neben Suchterfahrungen auch mit einer Essstörung und dem sexuellen Übergriff durch einen Produzenten, den sie eindringlich in dem Song „Ice Cream Man“ schildert.
All dies in ihrem Album zu verarbeiten, sieht Raye als Therapie und der in Baden-Baden oft zu hörende Kommentar „die neue Amy Winehouse“ bezieht sich hoffentlich nur auf ihre musikalische Qualität. Neben dem jazzigen Auftakt hat Raye immer noch ein Händchen für gut tanzbare Nummern wie im Hit „Escapism“ und bei aller mit dem Publikum geteilten Qual ‐ „Du bist eine starke Frau!“ kam als Zwischenruf aus der ersten Reihe ‐ präsentierte sie sich auch als Künstlerin mit Humor und Mut zur Selbstironie.
Olivia Dean präsentiert Neo soul
Auf Kollaborationen mit anderen Musikern hat die zweite besonders herausragende Künstlerin des diesjährigen Festivals bislang weitgehend verzichtet: Olivia Dean, ebenfalls aus London und Jahrgang 1999, hat in diesem Sommer ihr Debütalbum „Messy“ veröffentlicht. Musikalisch ist sie im „Neo soul“ verortet ‐ bei dem die Tradition des Genres mit modernen Einflüssen verbunden wird. Bei ihrem Auftritt im Theater Baden-Baden präsentierte sich Dean so charmant wie tiefenentspannt und begeisterte mit ihrer tiefen Stimme und einfühlsam-optimistischen Texten. Diese überzeugen durch ihre Direktheit, wenn es um Beziehungen geht, denen man entwachsen ist, um alternative Lebenspläne ‐ oder, besonders eindringlich, um „Carmen“. Das ist der Name der Großmutter der Sängerin, die mit 18 Jahren aus der einstigen Kolonie Guyana nach Großbritannien kam. Ein Stück Familien- und Migrationsgeschichte, mit beachtlicher Warmherzigkeit vorgetragen.
Für die noch mehr am Anfang ihrer Karriere stehenden Musiker stand in Baden-Baden die Konzertmuschel als Bühne für Gratiskonzerte bereit. Dazu zählten auch die ebenfalls durch Kollaborationen bekannt gewordenen Dylan („Liar Liar“ mit Bastille) und Ásdís („Dirty Dancing“ mit Glockenbach). Beide bewiesen, dass sie auch für sich ein Programm gestalten können, wobei es für die Isländerin Ásdís sogar der erste eigenständige Auftritt überhaupt war. Ein eigenes Album ist ihnen bald zu wünschen.