Kultur
Mythos Gainsbourg
Paris / Lesedauer: 5 min

Christine Longin
Die Fassade der Nummer fünf in der Pariser Rue de Verneuil ist ein bisschen so wie ihr früherer Besitzer: bunt, schräg, anarchisch. Mit Graffitis, Postern und hingekritzelten Worten haben Fans dort ihre Erinnerung an Serge Gainsbourg hinterlassen. „Que la vie continue“ hat jemand mit schwarzem Filmstift gleich neben die schmiedeeiserne Eingangstür geschrieben ‐ das Leben möge weiter gehen. Der Satz passt nicht so richtig zu dem Haus, in dem die Zeit stehen geblieben ist. Und zwar am 2. März 1991, als seine Tochter Charlotte ihren Vater nach einem Herzinfarkt tot in seinem Bett fand.
Seither ist kaum etwas verändert worden. Der Aschenbecher mit den Zigarettenkippen, die Schokoriegel, die Familienfotos, die Parfumflaschen, der Steinway-Flügel, die Schreibmaschine, das Bett: Alles können Besucherinnen und Besucher seit vergangener Woche besichtigen. Charlotte Gainsbourg war es, die die Räume mit den schwarzen Wänden für das Publikum zugänglich machte. „Es ist, als ob ich 32 Jahre lang geschwiegen hätte und nun plötzlich über die Person reden kann, die ich über alles liebe“, sagte die 51-Jährige der Zeitung „Libération“.
Ihre melancholische Stimme führt die Gainsbourg-Fans per Kopfhörer durch die 130 Quadratmeter auf zwei Etagen, an die sie selbst so viele Erinnerungen hat. Erst zusammen mit ihrer Mutter Jane Birkin und ihrer 2013 gestorbenen Halbschwester Kate Barry. Und nach der Trennung der Eltern dann allein mit ihrem Vater und dessen neuer Lebensgefährtin.
Fans von Gainsbourg sind begeistert
„Zwischen null und neun Jahren lebten meine Schwester Kate und ich im Kinderzimmer neben der Küche. Manchmal schlief das Au-Pair-Mädchen im selben Zimmer hinter einer Stellwand. Null Intimität“, berichtet Charlotte Gainsbourg, die ihren drei Halbgeschwistern nach dem Tod des Vaters die Anteile an dem Haus abkaufte. „Charlotte die Schlüssel geben“ lautet 1991 der letzte Eintrag in Gainsbourgs Kalender. Seine Tochter war 19 Jahre alt und wollte gerade bei ihrem Vater einziehen, weil sie unter Liebeskummer litt und Tapetenwechsel brauchte. Der Tod des 62-Jährigen warf sie so aus der Bahn, dass sie drei Jahrzehnte brauchte, um die bereits damals geborene Idee eines Museums umzusetzen. „30 Jahre lang bin ich in dieses Haus gegangen und habe gedacht, dass er zurück kommen wird. Sein Geruch ist immer noch da.“ Erst nach dem Tod von Kate und einem Aufenthalt in den USA war die Sängerin und Schauspielerin bereit, ihre persönlichen Erinnerungen mit einem Publikum zu teilen.
Die Fans von Gainsbourg nahmen die Idee begeistert auf: Die Karten für einen Besuch in der Rue de Verneuil sind bis zum Jahresende ausverkauft. Die Gainsbourg-Nostalgie, die bereits zur Verlängerung einer Ausstellung im Centre Pompidou führte, kennt keine Grenzen. Neben dem musikalischen Genie, das der Komponist von „La Javanaise“ und „Mélody Nelson“ zweifellos war, ist es die Sehnsucht nach einer unbeschwerten Zeit, die die Französinnen und Franzosen auf die Spurensuche schickt.
Ein verletzlicher, ein rabiater Künstler
Murielle und ihr Mann, die ihre Plätze bereits im April reserviert haben, warten vor der Eingangstür im Regen auf den Einlass. Alle sechs Minuten dürften Zweiergruppen das Haus betreten, um eine 30-minütige Besichtigungstour zu machen. „Wir sind mit ihm und seiner Musik groß geworden“, erinnern sich die beiden 62-Jährigen, die Gainsbourgs erste Fernsehauftritte noch in Schwarz-Weiß sahen. Als der Musiker Ende der 1980er-Jahre im Konzertsaal Zenith sein letztes Konzert gab, war Murielle mit dabei. Auch sein Grab auf dem Friedhof Montparnasse hat das Paar aus Montpellier bereits besucht. Auf die Frage, was Gainsbourg so besonders macht, müssen die beiden allerdings kurz nachdenken. „Es war seine Poesie. Und seine Zerbrechlichkeit, die an die von Heranwachsenden erinnert. Deshalb hatte er ja auch so einen Erfolg bei den Jugendlichen.“
In der Tat wirkte Gainsbourg, wenn er mit seiner nuschelnden Stimme sprach, verletzlich. „La tête de Chou“, der Kohlkopf, wie er auch genannt wird, haderte sein ganzes Leben lang mit der eigenen Hässlichkeit. Gleichzeitig ließ er keine Gelegenheit aus, um zu provozieren. Mit schlüpfrigen Witzen und Schimpfworten im Fernsehen, wo er häufig betrunken auftrat. Zur Sängerin Whitney Houston sagte er vor laufenden Kameras: „Ich würde sie gerne ficken.“
Auch Jane Birkin wurde Opfer seiner Exzesse. „Jane ist wegen meiner Fehler gegangen. Ich kam völlig betrunken zurück und schlug sie“, gestand der Musiker nach der Trennung des legendären Paares. „Wenn sie mich anschrie, gefiel mir das nicht. Zwei, drei Sekunden zu lang und dann paff.“ 1981 verließ seine Lebensgefährtin nach mehr als zehn Jahren mit ihren beiden Töchtern das gemeinsame Haus. „Ich wollte nicht mehr seine Sache sein“, schrieb sie in ihren Memoiren. Doch Gainsbourg, der sie mit dem Skandalsong „Je t’aime … moi non plus“ berühmt gemacht hatte, schrieb weiter Lieder für Birkin. Und als die Britin im Juli im Alter von 76 Jahren starb, legten die trauernden Fans vor dem Haus in der Rue de Verneuil Blumen nieder.
Haus mit viel Liebe zum Detail eingerichtet
Drinnen sind von Jane Birkin noch Parfums und Fotos zu sehen, eines davon auf dem Flügel. Sie war die erste Frau, die mit Gainsbourg in dem Haus wohnte, das er eigentlich für seine Kurzzeitaffäre Brigitte Bardot 1967 gekauft hatte. Der Sohn jüdisch-russischer Einwanderer ließ es monatelang umbauen und richtete es mit viel Liebe zum Detail ein. Zum Beispiel mit einem alten britischen Zahnarztstuhl, den er hinter seinen Schreibtisch stellte.
Überhaupt zeigt die „Maison Gainsbourg“ das Bild eines exzentrischen Künstlers, der weiße Schuhe der Marke Repetto trug, Anatomiebücher las und Plüschaffen sammelte. Im Museum ein paar Meter weiter sind 450 Objekte seiner Sammlung zu sehen. Im Shop sind seine Schuhe ebenso zu haben wie seine legendären Lee-Cooper-Hemden. Seine Fans stört der Kommerz rund um ihr Idol nicht. „Wir werden ganz bestimmt etwas kaufen“, sagt Murielle. „Wir brauchen die Erinnerung.“