Kultur
Musik als Ritual: Pianist Nik Bärtsch und sein 24-Stunden-Projekt
Feldkirch / Lesedauer: 4 min

Schwäbische.de
Leise und unmerklich rieselt der Sand in hohen Stundengläsern nach unten. Sie stehen im Großen Saal des Feldkircher Montfort-Hauses rund ums Publikum und zeigen die unaufhaltsam vergehende Zeit an. Allerdings ist davon im ziemlich abgedunkelten Raum wenig zu sehen. Die Aufmerksamkeit der Anwesenden konzentriert sich ohnehin eher auf das Zentrum. Dort steht das vielfältige Instrumentarium des Schweizer Pianisten Nik Bärtsch, des Bassklarinettisten und Altsaxophonisten Sha (Stefan Haselbacher) und des Schlagzeugers Nicolas Stocker. Zu dritt präsentieren sie im Rahmen des Feldkircher Festivals „Montforter Zwischentöne“ ein 24-stündiges Musikritual mit dem Titel „Mobile“.
Nik Bärtsch ist als Musiker und Bandleader seit 2005 beim Münchner Label ECM des gebürtigen Lindauers Manfred Eicher unter Vertrag. Seine zusammen mit Sha, Stocker und dem Light Designer Daniel Eaton entwickelte Marathon-Performance „Mobile“ ist als offenes Klang-Raum-Erlebnis „bei Tag und Nacht“ konzipiert. Wer sich darauf einlassen möchte, kann es sich in einer „Hör-Sitz-Chill-Landschaft“ bequem machen, aber auch jederzeit gehen und später wiederkommen. Als ich abends das weiträumige Foyer des Montfort-Hauses betrete, läuft das Ritual bereits seit etwa fünf Stunden. Nachmittags um vier Uhr hat es begonnen. Ohne Einführung zur Konzertform, wie ich von den künstlerischen Festivalleitern Folkert Uhde und Hans-Joachim Gögl erfahre.
Besucher sitzen gemütlich auf Sofas
Bevor ich in den Saal gehe, greife ich noch einen kleinen Snack an der Bar ab. Der Service hat bis 22 Uhr geöffnet. Danach gibt es über Nacht alles per Selbstbedienung. Im Durchgangstrakt verkündet ein Schild, dass hier die „Ruhezone“ beginne. Man solle keine Speisen und Getränke in die Vorstellung mitnehmen und die Smartphones stummschalten. Schon beim Eintritt höre ich leises Gebimmel höchster Klaviertöne. Es dauert eine Weile, bis sich meine Augen an die Dunkelheit der Halle gewöhnt haben. In der Mitte stehen große Trommeln, ein riesiger Gong, ein Flügel, einige Blasinstrumente, ein Drumset und zahlreiche Perkussionsinstrumente. Rund um diesen Aufbau sind im Schummerlicht alte Sofas und Sessel erkennbar. Man habe die Vintage-Teile von der Caritas als bequeme Sitz- und Liegemöbel organisiert, erzählt man mir später.
Ich suche mir einen freien Polsterplatz aus. Spärliche lilafarbene Lichtquellen beleuchten die Musiker. Silbern klingen die Klopfgeräusche der hohen Klaviertasten, wie Schatten, die sich mal heller, mal dunkler einfärben. Ihr meditatives Changieren überlagerter Metren lässt an Minimal Music von Philip Glass und Steve Reich denken, die bereits in den 1970er-Jahren ostasiatische Repetitionstechniken und komplexe afrikanische Rhythmusstrukturen aufgegriffen haben. Ganz unangestrengt entsteht da ein frei flutendes, sanft in der Schwebe gehaltenes Kontinuum allmählich variierter Raster und schillernder Flächen, die einen hypnotischen Sog erzeugen.
Mit der Zeit entsteht ein Klangteppich
Bärtsch verzichtet bewusst auf pianistische Virtuosität, wie man sie vom traditionellen Jazz kennt. Seine Kunst will quasi „nicht vom Können kommen“, sondern mit minimalen Mitteln maximale atmosphärische Wirkung erzielen. Auch im Spiel von Sha und Stocker gibt es keine spektakulären Momente, kein hektisches, wildes oder ekstatisches Auftrumpfen. Alles bleibt sehr bedächtig und geht selten über mittlere Lautstärke hinaus. Über Ostinato-Figuren wiederholen sich gewollt simple melodische Patterns. Aus ihnen wird ein Klangteppich geknüpft, der unmerklich seine Struktur, Farbe und Gestalt ändert. Nach gefühlten Ewigkeiten von Einstimmigkeit bauen sich tonale Zusammenklänge auf. Jazzige Harmonien, pentatonische Läufchen und mild synkopisch durchsetzte Rhythmen erzeugen unterschwelligen Groove, der in sanften Wellen vorwärtsdrängt.
Im ruhigen Fluss dieser nicht vorherhörbaren Musik gibt es auch Phasen nachlassender Intensität, erlahmender Bewegung, versickert streckenweise die Inspiration. Unaufdringlich unterfüttern tiefe Liegetöne der Bassklarinette sparsam perkussive Klopfzeichen oder weiches Singen von Klangschalen. Akustische Prozesse muten hier fast naturhaft an. Unter der hohen Saaldecke im Montfort-Haus lässt ihr organisches Wachstum und vegetatives Wuchern geradezu die Zeit stillstehen. Wer sie einfach vorbeiziehen lässt, kann die Seele baumeln und sich dabei die inneren Ohren massieren lassen.
Schamane am Klavier
Nach einiger Zeit wechsle ich meine Perspektive, gehe langsam rund ums Publikum. Sind manche schon eingeschlafen? Oder dösen sie nur? Um halb elf klinke ich mich aus. Als ich früh morgens um fünf Uhr wieder dazustoße, scheinen noch zehn bis fünfzehn Leute da zu sein. Bärtsch sitzt aufrecht am Flügel wie ein schwarz gewandeter Schamane und ist grade mit dezent aufsteigenden Arpeggien beschäftigt, die wie Blasen im Wasser nach oben steigen. Insgesamt ist dieses Wellness-Klangbad eine sehr entspannte Konzerterfahrung mit fernöstlichem Touch.