Erlebnisraum
Architektur: Kirchen zwischen Gotteshaus und Erlebnisraum
Kultur / Lesedauer: 4 min

Schwäbische.de
Die Frage, wozu wir heute noch Kirchenräume brauchen, beschäftigt die großen Kirchen gleichermaßen. Im Zeitraum von 25 Jahren nach der Wiedervereinigung kommt man auf 720 Kirchen, die in Deutschland aufgegeben wurden, katholische wie protestantische. 190 davon abgerissen, andere umgebaut zu Altenheimen, Schulen, Sozialzentren oder Wohnanlagen. Einige haben sich in Restaurants und Cafés verwandelt.
Der Trend legt sich nicht gleichmäßig übers Land. Die Diözese Rottenburg-Stuttgart muss sich damit nicht herumschlagen. Der Schwerpunkt ist das Ruhrgebiet, dessen Strukturwandel die Städte verändert. In den neuen Bundesländern hat der Trend Tradition seit 1945, weil die DDR alte Bausubstanz, von Vorzeigeobjekten abgesehen, nicht erhalten wollte. Heute folgt die Kirchenschließung dem Management-prinzip des Rückzugs aus der Fläche.
Sakralraum und Kunstraum
Auf eine Gegenbewegung, die mit Zahlen nur annähernd einzufangen ist, weist das Buch von Thomas Erne hin, Direktor des EKD-Instituts für Kirchenbau und Professor für Praktische Theologie in Marburg: auf den wachsenden Besucherstrom zu den zentralen Kirchen, den historischen Münstern und Domen, touristisch ausgewiesenen Gotteshäusern wie die Dresdner Frauenkirche oder zu den neuen „Kulturkirchen“ wie die vom Londoner Architekten Louis Poulsen minimalistisch durchgestaltete Moritzkirche in Augsburg. Der Untertitel des Buches greift die Frage auf, wozu wir Kirchen brauchen. Der Haupttitel versucht die Antwort. Erne versteht sie als „Hybride Räume der Transzendenz“.
Das klingt etwas kompliziert. Aber der Begriff des Hybriden ist ja inzwischen allgegenwärtig, wenn es darum geht, zwei Eisen im Feuer zu haben. Hybride Kirchenräume meint, dass sie von ihren Betrachtern in einer Doppelfunktion wahrgenommen werden können, als Sakralraum und Kunstraum. „Kirchen sind Orte, an denen sich eine christliche Gemeinde zum Gottesdienst versammelt. Gleichzeitig besucht jedes Jahr ein Millionenpublikum Kirchen, um unabhängig von den Gottesdiensten die besondere Atmosphäre der Räume zu erleben.“
Ernes Kronzeuge ist der Dichter Wolf Wondratschek , der in seiner Festrede beim Rheingau-Festival 2015 der Frage nachging: Was bedeutet es, in einer Kirche zu sein, wenn man nicht betet? Was Wondratschek interessiert, ist die räumliche Erfahrung von Entgrenzung. Dieses Thema, die besondere Atmosphäre und Raumerlebnisse in Gebäuden, verfolgt Erne weiter: So in einem Gespräch mit dem Schweizer Architekten Peter Zumthor, der Kapellen gebaut hat, die Wallfahrtsorte für Architekturinteressierte geworden sind. Aber nicht nur Zumthors Kapellen, auch seine Profanbauten haben eine große Anziehungskraft auf Besucher: das Kunstmuseum in Bregenz oder die Therme in Vals.
Erne selbst berichtet im Buch von einer Stichprobe. Er beobachtet die Besucher des (evangelischen) Ulmer Münsters am (katholischen) Feiertag Allerheiligen, wo es erwartungsgemäß ruhig und menschenleer sein müsste. Das Münster öffnet um neun. Um zehn sind bereits hundert Besucher da: eine Gruppe tschechischer Steinmetze, eine französische Familie, eine Reisegruppe aus Asien, einzelne Personen in den Bankreihen. Die Kirche ist besucht, obwohl hier nichts stattfindet, was man, wie Erne schreibt, „in einer Kirche erwarten darf, und was sie nach evangelischer Lesart überhaupt erst zur Kirche macht: die versammelte Gemeinde und die Verkündigung des Evangeliums".
Für solche Doppelausprägungen von Kirchen als Gotteshaus und Erlebnisraum liefert das Buch zahlreiche Beispiele, was Architekturkonzepte beim Kirchenbau, was die künstlerische Ausgestaltung der Räume und auch, was die Liturgie betrifft. Das spektakulärste Beispiel ist Stefan Strumbels Umgestaltung der katholischen Kirche im südbadischen Goldscheuer 2011, die sogar die Aufmerksamkeit der „New York Times“ gefunden hat. Mehr Bedeutungsgewinn ist ja hienieden nicht möglich. Der aus Offenburg stammende Künstler Stefan Strumbel ist mit Arbeiten bekannt geworden, die sich mit Heimat und Folklore auseinandersetzten, er zeigte Kuckucksuhren und Schwarzwaldmädel im Bollenhut mit Sturmgewehren.
Die Kirche in Goldscheuer bei Kehl, ein schlichter Bau von 1960, wurde 2010 angesichts schwindender Mitgliederzahlen der Gemeinde und steigender Kosten für die Gebäudeunterhaltung von der Diözese Freiburg zur Disposition gestellt. Die Kirche war schon leer geräumt, da lud Gemeindepfarrer Thomas Braunstein Stefan Strumbel ein und gewann ihn für eine Neugestaltung. Pfarrgemeinderat und Diözese zogen mit, Strumbel verzichtete aufs Honorar. Die Neugestaltung arbeitet mit schlichten, aber im sakralen Umfeld ungewöhnlichen Mitteln wie Graffiti und LED-Beleuchtung. Die Kirche hat mit ihrer Umgestaltung regionales wie internationales Besucherinteresse gefunden. Aber auch, wie Pfarrer Braunstein sagt, eine solide Akzeptanz in der Gemeinde.
Thomas Erne: Hybride Räume der Transzendenz – Wozu wir heute noch Kirchen brauchen. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig, 250 Seiten. 34 Euro.