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Feingeist und Komödiant: Edgar Selge wird 75

München / Lesedauer: 4 min

Edgar Selge ist einer der profiliertesten deutschen Schauspieler. Der Lohn: Viele Preise, begeisterte Kritiken und ein treues Publikum. Nun hat der Darsteller erneut Grund zu feiern.
Veröffentlicht:27.03.2023, 05:00

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Egal ob Drama, Kunstfilm oder Komödie — Edgar Selge hat als Schauspieler eine enorme Bandbreite. Im Theater überzeugt der mit jeder Menge Preisen bedachte Darsteller ebenso wie mit seinen Rollen in Film und Fernsehen, wo er unter anderem dem ARD–Krimi „Polizeiruf 110“ als sensibler Münchner Ermittler Jürgen Tauber eine nachdenklich–ironische Note verlieh. 2021 wurde er als Schriftsteller gefeiert für den autobiografisch gefärbten Roman „Hast du uns endlich gefunden“ mit Einblicken in Selges Kindheit in den 1950er–Jahren. Am Montag (27. März) wird der Schauspieler, der mit seiner Frau Franziska Walser (älteste Tochter von Schriftsteller Martin Walser) in Berlin und München lebt, 75 Jahre alt.

Seine große Wandlungsfähigkeit stellte Selge erst kürzlich wieder unter Beweis, im Kinofilm „Aus meiner Haut“, der im Februar anlief. Darin spielt er eine junge Frau — für ihn kein Problem. „Es gibt einen Satz von Marcel Proust, der heißt: Einen Körper zu haben ist an sich die größte Bedrohung für den Geist“, sagte Selge. „Da spielt es keine Rolle, ob ich in den Körper einer Frau schlüpfe oder ob ich meinen eigenen Körper betrachte oder benutze.“

Aufgewachsen ist Selge in Herford in Ostwestfalen. Sein Vater leitete eine Jugendstrafanstalt, beide Eltern liebten die Musik. In der Theatergruppe der Einrichtung sammelte Selge erste Erfahrungen mit dem Schauspiel. Das eigentliche Handwerk lernte er dann in München, an der Otto–Falckenberg–Schule. Nach dem Abschluss 1975 startete Selge am Schiller–Theater in Berlin und wechselte dann bald an die Münchner Kammerspiele, wo er bis 1996 blieb. Viele Bühnenauftritte folgten, etwa am Schauspielhaus Zürich, am Wiener Burgtheater.

Einer seiner größten Erfolge war die Rolle eines Literaturprofessors in „Unterwerfung“ nach dem viel diskutierten Roman von Michel Houellebecq — einer Zukunftsvision, in der Frankreich von einem gemäßigten islamischen Präsidenten regiert wird, der an die Macht kommt, um einen Sieg der Rechtsextremen zu verhindern. Der Lohn für Selge: Die Wahl zum Schauspieler des Jahres, der Deutsche Theaterpreis Faust und begeisterte Kritiken.

Auch die Film– und Fernsehbranche schätzt den vielseitigen Darsteller. Helmut Dietl holte ihn für die Gesellschaftssatire „Rossini — oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief“ vor die Kamera. Im Fernsehen spielte er etwa im ZDF–Film „Honecker und der Pastor“, in dem Selge als gestürzter DDR–Staatsratschef Erich Honecker nach dem Mauerfall bei einem Geistlichen unterkommt.

Immer wieder tritt Selge mit seiner Frau Franziska auf, auf der Bühne und im Film. Für beide nichts Ungewöhnliches. Sie lernten sich auf der Bühne kennen und lieben. „An den Kammerspielen. Das Stück war „Trommeln in der Nacht“ von Brecht“, erzählte Selge der „Süddeutschen Zeitung“. Bis heute arbeitet er gerne mit der Frau zusammen, mit der er seit bald 40 Jahren verheiratet ist. „Gemeinsame Theaterarbeit kann dabei helfen, unsere lähmenden Lebensgewohnheiten zu hinterfragen, uns zu verändern und lebendig zu bleiben“, findet er.

Im Theater ebenso wie im Film denkt sich Selge präzise und einfühlsam in die Eigenarten seiner Figuren hinein und verleiht ihnen Tiefe und Charakter. Oft sind sie melancholisch, mal tragikomisch und immer wieder mit feinsinnigem Humor. Eine Gabe hat er für neurotische Figuren, vielleicht, weil er als bekennender Hypochonder vieles nachempfinden kann: „Vom leichten Brennen in der Kehle bis zum Kehlkopfkrebs ist es in meiner Fantasie kein weiter Weg“, bekannte er 2007 anlässlich einer Rolle im ARD–Film „Angsthasen“.

Überhaupt die Angst. Ein Gefühl, das auch in seinem Buch immer wieder aufblitzt, etwa wenn der Vater den Rohrstock rausholt oder ihm körperlich zu nahe kommt. „Angst war als Kind meine zweite Haut“, gab Selge in einem Interview zu. Noch heute sei ihm dieses Grundgefühl sehr bekannt. „Sie ist einerseits hinderlich, andererseits treibt sie mich an, weil ich regelmäßig damit kämpfen muss, sie zu überwinden.“

Doch Edgar Selge wäre nicht Edgar Selge, wenn trotz allem nicht auch die Freude am Komischen sichtbar würde. Worüber er selbst am besten lachen kann, vertraute er mal der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ an: „Über unfreiwillige Komik. Auch wenn jemand ausrutscht. Kann sein, dass ich lachen muss, während ich zu Hilfe eile.“ Auch über eine Macke gibt er Auskunft: „Ich versinke in Selbstgesprächen. Vernünftiger wäre es, das Nichts auszuhalten.“