Krisenerfahrung
Essay: Die Auferstehung Europas
Kultur / Lesedauer: 6 min

Schwäbische.de
Welche Kraft aus einer Krisenerfahrung erwachsen kann, das zeigt die Renaissance. Aus den Abgründen der Pest erhob sich Europa zwischen 1350 und 1550 zu neuer Blüte. Renaissance – das steht für „Wiedergeburt“, für Erfindungsreichtum und für eine neue Welt. Die Erinnerung an dieses ungemein reiche Zeitalter kann uns auch heute einen Weg in die Zukunft weisen.
Sie fasziniert. Sie fasziniert uns in unseren postheroischen Zeiten fast noch mehr denn je. Zugleich wirkt sie seltsam fremdartig: die Renaissance. Im 19. Jahrhundert wurde diese einmalige Epoche, dieses Scharnier zwischen Mittelalter und Neuzeit, selbst noch einmal neu geboren und geriet zur Projektionsfläche für alles, wovon das 19. Jahrhundert träumte: die Herrschaft des Bürgertums und die Freiheit. Diese Freiheit beinhaltete eine Freiheit der Wissenschaften vom Einfluss der Mächtigen und der Kirche, aber auch eine Freiheit des Individuums.
Es war der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt , der in seinem Schlüsselwerk über „Die Cultur der Renaissance in Italien“ diese Vorstellung durchsetzte und die Renaissance vor allem als Epoche des Durchbruchs des neuzeitlichen Individuums verstand. Damit begründete er eine Sicht auf dieses Zeitalter, die von Klassik und Romantik mitgeprägt, durch die Glut historischen Fachwissens gehärtet, bis in unsere Zeit Geltung hat: die Renaissance als die Morgenröte der Welt, in der wir bis heute leben.
Zwar war die Renaissance eine widersprüchliche Bewegung. Doch schon während der Renaissance selbst wurde den Menschen klar, dass allerorten etwas Neues einsetzte. Aber wann genau begann das? Die Anfänge liegen schon im frühen 14. Jahrhundert, mit Dantes „Die Göttliche Komödie“, den Schriften Boccaccios und dem berühmten Aufstieg des Humanisten Petrarca auf den Mont Ventoux bei Avignon 1336. Dessen pathetische Beschreibung mündete zugleich in eine neue Naturerfahrung.
Es wird hier schon klar, dass Italiener eine Hauptrolle spielten. Warum? Italien , zerklüftet in viele konkurrierende Fürstentümer und Stadtstaaten, zerrissen zwischen den drei Machtzentren des großen Sizilien, des Kirchenstaats und der Ambitionen der Kaiser aus dem Norden, war politisch schwach, aber wirtschaftlich reich: ein Laboratorium und Experimentierfeld der Zukunft.
Hier wütete die Pest zuerst, bevor sie innerhalb weniger Jahre Europa verwüstete. Hier zerbrach die Macht der Päpste im „Großen Abendländischen Schisma“. Das Chaos mit drei konkurrierenden Päpsten wurde erst im Konstanzer Konzil beseitigt. Hier verloren Kurie, Kaiser und Adel gemeinsam an Autorität.
Die Folge der Katastrophenjahrzehnte des 14. Jahrhunderts war eine Auferstehung der europäischen Zivilisation. Eine Auferstehung, an deren Ende Europa ungleich prachtvoller und mächtiger und moderner dastand als zuvor.
Der Historiker Bernd Roeck , der mit seinem voluminösen Buch „Der Morgen der Welt“ die derzeit gültige Geschichte der Renaissance veröffentlicht hat, setzt den Beginn der Renaissance noch weit früher an, und lässt die Epoche auch länger dauern als die meisten seiner Kollegen: Er schildert als Vorboten schon den Staufer Friedrich II., deutscher Kaiser, aber auch König von Sizilien, und vor allem als Wissenschaftsfürst, Kunstmäzen und Modernisierer in jeder Hinsicht das „Staunen der Welt“. In ihm sieht Roeck den ersten Menschen der Renaissance, das erste moderne Individuum im Sinne Jacob Burckhardts: neugierig und autonom, souverän und mobil, ein „kompletter Mensch“ in Widersprüchlichkeit und Vielfalt.
Das Ende der Renaissance siedelt Roeck wiederum vergleichsweise spät an: Sie dauert bei ihm bis ins späte 16. Jahrhundert, reicht bis in die Zeit von Tizian, Montaigne, Shakespeare und Francis Bacon, die gewissermaßen die Summe dieses Zeitalters darstellen.
„Die italienische Renaissance barg“, schrieb Burckhardts Schüler Friedrich Nietzsche, „in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Kultur verdankt“. Erst in dieser Epoche siegte die Bildung über den Dünkel der Herkunft, wuchs Begeisterung für die Wissenschaft und die Geschichte über die Dogmen der Scholastik, wurde die Befreiung der Gedanken und die Missachtung der Autoritäten möglich. „Welche Glut in einer ganzen Fülle künstlerischer Charaktere hervorloderte, die Vollkommenheit in ihren Werken ... die Renaissance hatte positive Kräfte, welche in unserer bisherigen modernen Kultur noch nicht wieder so mächtig geworden sind. Es war das goldene Zeitalter dieses Jahrtausends“, schreibt Nietzsche.
In der Renaissance verschmelzen das Ende des Mittelalters, die Wiedergeburt der antiken Kultur und der Beginn der Neuzeit. Diesen macht man gern am „Annus Mirabilis“ 1492 fest, dem Jahr, in dem drei zentrale Ereignisse zusammenfielen: das Ende der jahrhundertelangen Reconquista in Spanien, als nach mehrmonatiger Belagerung der letzte Emir von Granada die Stadt den katholischen Königen übergab. Mit diesem Ereignis endete die fast 800-jährige Geschichte der muslimischen Mauren auf der iberischen Halbinsel. Im gleichen Jahr wurde nach dem Tod von Innozenz VIII. kein Italiener, sondern ein spanischer Kardinal zum Papst gewählt: Rodrigo Borgia, der sich den Namen Alexander VI. gab. Schließlich die Entdeckung Amerikas mit der Landung von Christoph Kolumbus auf einer Insel der heutigen Bahamas im Oktober.
Es war der Beginn des „Siglo d’Oro“, des goldenen spanischen Jahrhunderts – eine politische Revolution. Schon zuvor hatte es Revolutionen geradezu im Dutzend gegeben: die wirtschaftliche Revolution durch die Einführung der doppelten Buchführung und diverse moderne Finanzinstrumente, die Beschleunigung des Handels durch neue Verkehrswege und Handwerkstechniken. Vor allem die Städte emanzipierten sich in deren Gefolge. Autonome Republiken führten vor, dass man Könige und Erbherrschaften nicht brauchte, sie praktizierten moderne Wahlverfahren wie das Losen und das Rotationsprinzip. Philosophen wie Machiavelli und Morus lieferten dazu die Theorien.
Parallel kam es zu Medienrevolutionen, deren wichtigste der Buchdruck war. Nun wurde mit Flugblättern kommuniziert wie heute per Mail und Whatsapp. Aber auch die Bibel in den Volkssprachen war unmittelbare Aufklärung und ein Hieb gegen die Mächtigen. Die Wissenschaftsrevolution brach mit den Dogmen der Kirche, griff die Anregungen der Antike auf, entdeckte verfemte oder unbekannte Autoren neu und mündete in ein komplett verändertes Weltbild: die Kopernikanische Revolution.
Den neuen Realismus des Zeitalters spiegelte die Bildende Kunst: In der Erfindung der Zentralperspektive, aber auch in einem Humanismus, der ungeniert Menschen mit durchäderten Wangen, Bartstoppeln und Falten zeigt und der sie zugleich kontrastiert mit weltlicher Pracht von Pelz, Brokat- und Seidengewändern.
All dies fließt zusammen in den heroischen Einzelnen des Zeitalters: Michelangelo, Leonardo, Staatsmännern wie den Medici, den Borgia, Autoren wie Machiavelli und Vasari.
Die Erinnerung an dieses ungemein reiche Zeitalter lohnt unbedingt. Sie lohnt heute erst recht. Denn die Renaissance zeigt uns, welche Kraft aus der Krise erwächst, welcher Aufbruch aus den Abgründen einer Pandemie wie der Pest. Es liegt an uns, ob wir die Krise zu einer neuen Renaissance nutzen.
Info: Zum Weiterlesen und weiterdenken: Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance. Verlag C. H. Beck, München 2017. 1312 Seiten, 44 Euro.