Theaterbühne
Interview mit Milo Rau
Kultur / Lesedauer: 5 min

Schwäbische.de
Milo Rau gehört zu den auffälligsten und unberechenbarsten Künstlern der Gegenwart. Er begann als Performancekünstler, schreibt und inszeniert seit 20 Jahren auch auf Theaterbühnen. Seit 2018/19 ist er Intendant am Niederländischen Theater im flämischen Gent. Seit 2008 dreht Rau Filme. Sein neuestes Werk, die deutsche Produktion „Das Neue Evangelium“, hat am Sonntag bei den Filmfestspielen von Venedig in der Sektion Giornate degli Autori Premiere. Rüdiger Suchsland sprach mit Milo Rau.
Können Sie skizzieren, wo Sie als Künstler eigentlich Ihre eigene Position sehen, zwischen Theater und Kino? Was Sie machen, erinnert ja in mancher Hinsicht an Schlingensief.
Der Unterschied ist, glaube ich, der der Bewegung. Schlingensief begann mit Film, dann hat er Theater gemacht, und dann verwandelte sich dieses Theater mehr und mehr in politische Aktionskunst. Bei mir ist es fast umgekehrt: Ich habe mit Aktionskunst begonnen, wurde dann Theatermacher und habe in den letzten Jahren das Kino entdeckt.
Wie kamen Sie zum Kino?
Fast schon aus Archivierungszwang. Wir haben Inszenierungen verfilmt. „Das Neue Evangelium“ ist mein erster wirklich selbstständiger und unabhängiger Kinofilm – das Theater ist da nur eine Krücke, um es auch finanzieren zu können. Was mich an Film interessiert, ist, dass er immer realistisch ist. Theater ist ja nie realistisch, es bleibt immer Illusion und abstrakt.
In welcher Hinsicht ist das Kino realistischer? Auch Kino ist doch immer „gemacht“, es ist immer künstlich, und der technische Aufwand ist groß.
Nicht die Abbildung ist real, sondern der Moment der Abbildung. Realismus heißt, dass da etwas passiert, eine Realität entsteht, die man nicht erwartet hat. Die Kamera sieht total. Wenn man einen Film montiert, dann sieht man, dass die Kamera viel aufgezeichnet hat, was man gar nicht realisiert hat.
In Ihrem Film haben Sie mit Laien gearbeitet. Was ist „Das Neue Evangelium“ für ein Film?
Einerseits erzählen wir die bekannte Jesus-Geschichte aus dem Neuen Testament, wie sie in zwei Extremformen fürs Kino einerseits von Pier Paolo Pasolini , andererseits von Mel Gibson verfilmt wurde. Allerdings – da ist der Film näher an Pasolini – größtenteils nicht mit professionellen Schauspielern oder gar Stars, sondern mit Laien. In unserem Fall handelt es sich um Schwarzafrikaner, die in Süditalien in Lagern leben, teilweise Flüchtlingslager, teilweise Arbeitslager, unter ziemlich prekären Bedingungen. Einige unserer Hauptdarsteller sind Aktivisten. Und schließlich haben wir unsere Drehbedingungen und das Machen in den Film integriert. „Das Neue Evangelium“ ist also Spielfilm und Filmessay und sein eigenes Making-off in einem.
Warum kamen Sie überhaupt darauf, einen Jesus-Film zu machen?
Matera in Süditalien war „Europäische Kulturhauptstadt“ und hat mich gebeten, dort etwas zu machen. Ich habe die Lager gesehen und daraus die Gesamtkonstruktion entwickelt. Auf der anderen Seite – und das macht auch meine Gegnerschaft zur grassierenden Cancel Culture aus – interessiert mich dieses christlich-katholische Grundmotiv: Aus der Zerstörung des Physischen kommt ja eigentlich die Erlösung.
Diese Geschichte, die wir uns zwei Jahrtausende lang erzählen, ist ja absurd: Gott wird zu Fleisch. Jemand muss sterben, und im letzten Moment wird er vom Körper wieder zum Geist. Aber dies ist die absolut realistische Urszene dessen, was es heißt, Mensch zu sein. Im Neuen Testament hat die christliche Kultur einen Schlüssel gefunden, mit den ganzen menschlichen Widersprüchen umzugehen, ohne sie zu tilgen. Denn diese Geschichte ist ja voller Widersprüche, und das gefällt mir.
Sie sprachen eben die Cancel Culture an. Es wird gerade viel über politische Korrektheit in den Künsten und über Boykott inkorrekter Kunst und Künstler diskutiert, die manche als Zensur empfinden, andere feiern sie. Wie stehen Sie zu alldem?
Was ich komplett ablehne, ist, dass man jetzt Vorsicht walten lassen soll als Künstler. Das ist tatsächlich eine Gemeinsamkeit mit Schlingensief: Genau diese Vorwürfe, die man heute vielen Künstlern macht, gab es auch gegen Schlingensief. Dann ist er gestorben, und jetzt ist er ein Held – sehr viktorianisch. Wenn man nach Süditalien geht und mit den Arbeitern aus Afrika spricht und sie „people of color“ nennt, lachen sie und sagen einem: Das kannst du in deinen Seminaren in Berlin erzählen, wir sind Schwarze. Irgendwelche neoliberalen Oberflächen zu bereinigen, das macht überhaupt keinen Sinn für mich, das Auswechseln von Straßenschildern ist nicht wichtig.
Ausgerechnet aus eher linksliberalen Kreisen, die der Aufklärung, dem Kampf gegen Macht und für Bürgerrechte verbunden sind, kommt nun der Ruf nach Zensur. Die Kunst wird auf ein Mittel zur Verbesserung des Menschen reduziert – in einer sehr voraufklärerischen, naiv-schlichten Weise.
Ja, und in einer nicht-dialektischen Art und Weise. Denn man verbessert Menschen nur, indem man sie einem Risiko und Gefahren aussetzt. Man kann keine Geschichte formen, keine Emotionen wecken, wenn nicht irgendwo ein Risiko der Unsicherheit gefunden wird.
Aber Cancel Culture ist kein neues und linkes Phänomen. Ich wurde seit jeher von rechts, von der Mitte, von liberal, von links mit dem Canceln konfrontiert. Dieser puritanische Zensurgeist ist in der bürgerlichen Kultur auf allen Seiten ganz präsent.
Was tun wir dagegen?
Wir sollten beginnen zu verstehen, dass der Mensch ein Mischwesen ist. Dass es keine Vollkommenheit gibt, dass die Gesellschaft nicht vollkommen ist. Der Wunsch nach Vollkommenheit ist immer ein Wunschtraum der Feigen und der Opportunisten und der Dummen. Wir leben nicht in einer gerechten Gesellschaft. Man hat Angst, irgendetwas zu tun, was ein bisschen defätistisch wäre. In unserer Gesellschaft ist Defätismus nicht erlaubt.
Man glaubt nun, wenn man den Namen einer Straße bereinigt hat, dann ist auch das Problem beseitigt. Es ist eine einfache symbolische Befriedigung. Man will eine Gegenmacht moralisch strukturieren, aber unsere Gegenwart ist moralisch verunreinigt. Man muss das zeigen und sich damit konfrontieren. Und die Unreinheit ist die einzige Quelle der Kunst.