Antisemitismus
Antisemitismus reicht bis in die Mitte der Gesellschaft
Laupheim / Lesedauer: 4 min

Ob es die Bezeichnung der NS-Zeit als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte ist, wie sie der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland jüngst getätigt hat, oder die Gürtelschläge eines arabisch sprechenden 19-Jährigen gegen einen Israeli in Berlin – Antisemitismus in Deutschland wird wieder sichtbarer. Dies war auch Thema bei den 19. Laupheimer Gesprächen am Donnerstag im Schloss Großlaupheim mit dem Titel „Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart“. Veranstaltet wird die Tagung mit mehreren Gastrednern alljährlich vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg und der Stadt Laupheim.
Doch nicht vornehmlich die offensichtliche Abwertung von Juden und ihrer Geschichte bereitete Vortragenden und Teilnehmern Sorge. Vielmehr sei es ein kodierter und latenter Antisemitismus, der bis in die Mitte der Gesellschaft reiche. Diese Beobachtung vertrat unter anderem Tobias Ginsburg , der auf dem Podium mit dem Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi von der Hochschule Freiburg diskutierte.
Ginsburg, Theaterregisseur aus Hamburg und selbst Jude, hatte sich sieben Monate mit falscher Identität unter „Reichsbürger“ gemischt. Ergebnis seiner Recherche ist das von ihm verfasste Buch „Die Reise ins Reich“. Darin schreibt der 32-Jährige von Begegnungen mit friedliebenden Esoterikern und gewaltbereiten Nazis. Allen gemein: Die Überzeugung, dass die Bundesrepublik kein souveräner Staat, sondern ein Unternehmen sei. Die Bevölkerung diene wie Marionetten ominösen Strippenziehern.
Kritik an Israel wird salonfähig
Nicht selten seien die Hintermänner in derartigen Verschwörungstheorien Juden, so der Hamburger. Wenn zum Beispiel die Rede von „Schaltzentralen der amerikanischen Ostküste“ ist, welche die sogenannte BRD GmbH kontrollierten. „Solche Weltverschwörungen sind ein Element des modernen Antisemitismus“, erklärte Ginsburg. Sie seien auch, aber nicht nur bei Rechten und „Reichsbürgern“ zu finden. „Sie bringen Menschen dazu, sich als Opfer größerer Mächte wahrzunehmen, womit auch die Vorstellung einhergeht, sich wehren zu müssen“, sagte Ginsburg. Prominentester Fall ist wohl Wolfgang P., der im Oktober 2016 einen Polizisten vor seiner Haustür in Georgensgmünd südlich von Nürnberg erschoss.
Aber nicht nur bei rechtsextremen Gruppierungen machte Ginsburg Antisemitismus aus. Auch die Kritik an Israel werde zunehmend salonfähig. Er höre immer öfter, dass das Opfervolk nun zum Tätervolk werde und die Art und Weise, wie Israel mit Palästina umgehe, sich nicht wesentlich vom Holocaust unterscheide. „Man spricht heute nicht mehr von Judenhass, sondern von Zionistenhass“, so Ginsburg.
Der Fokus des Islamwissenschaftlers Ourghi lag hingegen auf dem von muslimischen Migranten nach Deutschland gebrachten Antisemitismus. „Wir dürfen nicht alle Muslime als Antisemiten betrachten“, stellte Ourghi, selbst Muslim, gleich zu Anfang klar. In Teilen der muslimischen Kultur und im Islam sei Judenfeindlichkeit jedoch verankert. Diese Erfahrung habe er am eigenen Leib in Algerien gemacht, wo er aufgewachsen ist. Als Gründe für den muslimischen Antisemitismus nennt Ourghi den Nahostkonflikt sowie eine konservative Auslegung des Korans. Sein Lösungsansatz: Mehr interkulturelle und interreligiöse Bildungsarbeit an den Schulen, um bereits bei muslimischen Jugendlichen über Antisemitismus aufzuklären.
„Ich bin ein Jude, der in Deutschland wohnt, und kann bezeugen, dass es auch ohne Muslime auf dem Schulhof zu antisemitischen Vorfällen kommt“, konterte Ginsburg. Ungefilterte Aggressionen finde er schrecklich und wolle diese nicht verharmlosen. Den Begriff des importierten Antisemitismus möge er persönlich nicht, denn auch in der Mitte der Gesellschaft gebe es Antisemitismus.
AfD und Antisemitismus
Über Judenfeindlichkeit in der Politik, genauer bei der AfD , sprach Politikwissenschaftler Marc Grimm von der Universität Bielefeld in seinem Vortrag. Dieser zeige sich laut Grimm unter anderem darin, dass die Partei immer wieder versuche, die schulische Aufarbeitung des Nationalsozialmus und des Holocausts im Bildungsplan zu reduzieren. Ein oft gehörtes Argument von Seiten der AfD dafür sei: Der derzeitige Lehrplan verhindere eine positive Identifikation mit dem eigenen Land. Als Beispiel dafür nennt Grimm die sächsische Fraktion der AfD, die gefordert hatte, dass der Schwerpunkt im Geschichtsunterricht in den Schulen auf dem 19. Jahrhundert und den Befreiungskriegen liegen solle. Ginge es nach der AfD-Landtagsfraktion, solle das Wort Holocaust im Geschichtsunterricht nicht mehr erwähnt werden.
Auch Grimm bekräftigte, dass weniger die öffentliche und gewollte Provokation wie die „Vogelschiss“-Äußerung der Kern des Problems sei. Vielmehr sei es der Versuch, den öffentlichen Diskurs zu verschieben. Und zwar weg von einer Identifikation mit den negativen Aspekten der Geschichte und hin zu einem positiveren Nationalbewusstsein.