Dekonstruktion
Dekonstruktion bei den Kammerspielen
München / Lesedauer: 4 min

Schwäbische.de
Walter Hess kommt in Schottenkilt und Plaid (Kostüme: Negar Nemati) auf die Bühne. Beinahe meint man, Erleichterung im Publikum zu spüren. Alles in Ordnung, ordentliche Klassiker-Inszenierung. Dann empfiehlt Hess Dr. Beckmanns Fleckenteufel gegen Blut. Man kann ja nie wissen, ob nicht doch was über den Orchestergraben spritzt. Das Product Placement fungiert als Prolog Shakespeare’scher Manier und als Reflexion über absurdes Sicherheitsdenken.
Der iranische Regisseur Amir Reza Koohestani spielt in seiner dritten Inszenierung an den Kammerspielen Shakespeare nicht gerade vom Blatt. Trotzdem vermisst man nichts in seiner eineinhalbstündigen „Macbeth“-Umschreibung.
Mitra Nadjmabadi hat ein Karussell aus Bad, Pissoir und bei Bedarf Schlafzimmer auf die Bühne gestellt, das sich munter dreht und immer mal wieder mit eher dekorativen Videoprojektionen (Benjamin Krieg und Philip Hohenwarter) angestrahlt wird. Darin inszeniert Koohestani eine Reflexion über das Theater und die Welt, in der wir leben.
(Proben-)Szenen des „Macbeth“ wechseln ab mit Szenen aus dem „wirklichen Leben“. In dem ist Christian Löber Regisseur und Hauptdarsteller von „Macbeth“. Doch ihm ist die Lady Macbeth (Gro Swantje Kohlhof) abhandengekommen. In einer Woche ist Premiere. Was tun? Seine Frau ist ebenfalls Schauspielerin und springt ein. Diese Lady (Mahin Sadri) ist Iranerin und ihr Bühnendeutsch nicht ganz perfekt. Sie will aber unbedingt auf Deutsch spielen, denn wenn sie Farsi spricht, schauen alle nur auf die Übertitel und nicht auf sie. Die Paar-Proben-Situation gibt jede Menge Stoff für züchtige (Bett-)Szenen einer Ehe.
Ein anderes Zentrum ist Stefan Merkis Banquo, der den Kollegen produktionsdramaturgisch die Figuren erklärt: „Die waren mal Freunde“, Macbeth und Banquo. Ist wichtig, das zu wissen, denn der Text ist je nach Regisseur verschieden. Was bei Shakespeare Macbeth, ist bei Koohestani der Regisseur, der Kohlhof in einer Rückblende immer wieder die gleiche Auftrittsszene der Lady spielen lässt, um seine Macht zu demonstrieren. Und Kohlhoff führt dem Publikum eine amüsante Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten vor.
Wenn die Lady sich beschwert, dass sie nicht mal einen eigenen Namen hat, werden Geschlechterrollen gestreift. Um Vielfalt im deutschen Theaterbetrieb geht es auch. Außer Mahin Sadri sind noch die syrischen Schauspieler Kinan Hmeidan und Kamel Najma dabei. Wenn sie darüber sinnieren, was eigentlich ihre Rolle in diesem Spektakel ist, dann ist das ein Dialog Shakespeare’scher Narren. Doch warum Syrer? Die Hexen (gesungen von Polly Lapkovskaja) erwähnen eine Frau, deren Mann als Matrose nach Aleppo ist. Nur liegt Aleppo nicht am Meer. So werden in dieser „Macbeth“-Umkreisung Gewissheiten relativiert und zeitgemäße Fragen gestellt. Den Schauspielern schaut man gerne dabei zu.
Zuschauer auf der Bühne
Gerne schaut man erst einmal auch Eva Löbau und Zeynep Bozbay in „Kill the audience“ zu. Der aus dem Libanon stammende Regisseur Rabih Mroué empfindet die Skandal-Inszenierung von Peter Weiss’ „Viet Nam Diskurs“ durch Peter Stein und Wolfgang Schwiedrzik am Originalort nach, nun Kammer 3. Auch die Waffen sind original, die Eva Löbau uns freundlich wie bei einer Tupperparty vorführt: zum Beispiel die Schlagstöcke der Inszenierung von 1968, die nach drei Vorstellungen abgesetzt wurde, weil Kabarettist Wolfgang Neuss zu Spenden für den Vietkong aufrief. Von den Spenden wurde ein MG gekauft, welches seitdem durch Kammerspiele-Inszenierungen geistert. Das kann man glauben oder nicht.
Zum Lärm der auch freundlich aufspielenden Musiker Marja Burchard und Maasl Maier massakrieren Löbau und Bozbay das Holzkameraden-Publikum im Zuschauerraum. „Ceci n’est pas un public“, steht da fein aus Holz ausgeschnitten. Die richtigen Zuschauer, also wir, wurden auf der Bühne platziert. Von „Kill the audience“ keine Spur, die Schauspielerinnen tun ihre Liebe zum Publikum in Worten und Taten kund. Außerdem tragen sie in schönster Brecht-Weill-Manier Texte aus der Aufführung von 1968 vor. Ihre auf die nun leeren Bankreihen projizierten Zuschauer befinden sich allerdings mit ihnen im Ungleichgewicht, lachen an den falschen Stellen, schunkeln unangebracht, husten, weinen, buhen und ratschen ungeniert. Nach Rabih Mroué kann das Publikum das Theater zum Leben erwecken oder töten, also lassen Löbau und Bozbay uns schließlich alleine mit einem „Publikum“ aus Statisten. Das ist definitiv zu wenig.