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Verhandlungssaal

Fall Mesale Tolu: Wut und Unverständnis über türkische Justiz

Istanbul / Lesedauer: 5 min

Journalistin aus Ulm darf die Türkei weiterhin nicht verlassen
Veröffentlicht:26.04.2018, 20:18

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Mesale Tolu hat seit Monaten auf diesen Augenblick gewartet. Im Verhandlungssaal der 29. Schwurgerichtskammer in Istanbul hat sie an diesem Donnerstagmorgen endlich Gelegenheit, ihre Forderung nach Freispruch und dem Ende ihres Ausreiseverbotes zu begründen. Auf der Anklagebank spricht Tolu von ihrem kleinen Sohn Serkan, der eigentlich in Deutschland in den Kindergarten gehen sollte, aber nicht kann, weil seine Eltern in der Türkei bleiben müssen. Seit einem Jahr geht das jetzt schon so. Damit solle nun Schluss sein, fordert Tolu.

Auch ihr Mann Suat Corlu und die anderen Angeklagten verlangen vor den Richtern das Ende ihrer Ausreiseverbote. Doch das Gericht bleibt hart. Alle – auch Tolu und Corlu – müssen weiterhin in der Türkei bleiben; der nächste Verhandlungstag wird auf den 16. Oktober festgesetzt. Nach der Sitzung winkt Tolu zwei in Untersuchungshaft sitzenden Mitbeschuldigten nach, die in Handschellen zurück zum Gefängnis gebracht werden. Mehrere Monate lang saß Tolu im vergangenen Jahr selbst hinter Gittern, zeitweise hatte sie Serkan im Gefängnis bei sich. Seit Dezember ist sie auf freiem Fuß, doch sie muss in Istanbul bleiben.

Anders gehandhabt

Die aus Ulm stammende Journalistin ist ratlos: In ähnlichen Fällen hätten andere deutsche Angeklagte doch ohne Auflagen sofort ausreisen dürfen, sagt sie mit Blick auf den Menschenrechtler Peter Steudtner und den Journalisten Deniz Yücel. Bei ihr sei das von Anfang an anders gehandhabt worden. „Es ist ein Schikane-Urteil“, schimpft die Linken-Politikerin Heike Hänsel, die wie der deutsche Botschafter in Ankara, Martin Erdmann, bei der Gerichtsverhandlung mit im Saal war. „Die Bundesregierung muss den Druck hier erhöhen.“

Eine sachliche Begründung für die Fortsetzung des Ausreiseverbots liefert das Gericht nicht. Tolu und ihre Mitangeklagten stehen wegen des Verdachts vor Gericht, linksextreme Terrorgruppen unterstützt zu haben. Es gebe keinerlei Beweise, schimpft Tolus Vater Ali Riza. „Die Akte ist leer.“

Vor der Gerichtsverhandlung hatte sich Ali Riza Tolu noch darauf gefreut, seine Tochter und seinen Enkelsohn mit nach Deutschland nehmen zu können. Nun wird dies frühestens im Oktober geschehen. Dabei hatte die türkische Regierung in letzter Zeit mehrmals signalisiert, dass sie an einem Ende der Krise in den Beziehungen zu Deutschland interessiert ist, die im vergangenen Jahr wegen der Inhaftierung von Bundesbürgern eskaliert war. Steudtner, Yücel und andere Bundesbürger sind seit dem vergangenen Sommer freigelassen worden, doch bei Tolu ist die türkische Justiz unerbittlich.

Auch bei türkischen Oppositionsjournalisten bleiben die türkischen Richter hart. Führende Reporter, Kolumnisten und Verlagsangestellte des regierungskritischen Blattes „ Cumhuriyet “ wurden am Mittwochabend zu Haftstrafen von bis zu siebeneinhalb Jahren verurteilt. Wie Tolu bleiben sie vorläufig auf freiem Fuß, dürfen aber nicht ausreisen.

Als die „Cumhuriyet“-Mitarbeiter am Donnerstag zur Arbeit kommen, ist von Niedergeschlagenheit nichts zu spüren, im Gegenteil. Es gibt Musik, kämpferische Reden und viele Umarmungen. „Die können uns keine Angst mehr machen“, sagt der Chef des „Cumhuriyet“-Vorstandes, Akin Atalay, der am Mittwoch nach anderthalb Jahren Untersuchungshaft als letzter Angeklagter auf freien Fuß gesetzt wurde. Seinen Kollegen berichtet er bei der Redaktionssitzung davon, er habe sich beim Gang aus dem Gefängnistor gefühlt wie neugeboren. Der erste Schluck des türkischen Nationalschnapses Raki habe besonders gut geschmeckt.

Mindestens anderthalb Jahre werde das jetzt anstehende Berufungsverfahren dauern, sagt der Kolumnist Aydin Engin. Bis dahin dürften die Journalisten des Oppositionsblattes vor dem Gefängnis sicher sein. Zudem erhalten viel Zuspruch von türkischen und westlichen Journalistenverbänden – und von ihren Lesern.

Auf scharfe Kritik im Freundes- und Bekanntenkreis wie auch in der Stadt Ulm stößt die Entscheidung des Istanbuler Gerichts, Mesale Tolu weiter die Ausreise zu verweigern.

Kritik, Enttäuschung und Entsetzen

Der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff, der im vergangenen Jahr als Beobachter den Prozessauftakt verfolgt hatte und seither Mesale Tolu und ihren Vater unterstützt, will die Journalistin demnächst in Istanbul besuchen. Wallraff sagte der „Schwäbischen Zeitung“: „Die Türkei versucht nach außen Entspannung vorzutäuschen, um so wieder deutsche Touristen anzulocken. Doch die politischen Verhältnisse in der Türkei verschlimmern sich zusehends: Inbesitznahme und Gleichschaltung der Medien, noch mehr politische Gefangene und Dutzende neue Gefängnisse im Bau.“

Cengiz Dogan vom Ulmer Solidaritätskreis „Freiheit für Mesale Tolu“, der seit April 2017 37 Demonstrationen in Ulm organisiert hat, ist tief enttäuscht: „Das Gericht hat eine komplett unerwartete Entscheidung getroffen, wir sind traurig, dass Mesale nicht zu uns reisen darf.“ Der Freundeskreis hatte damit gerechnet, dass das Ausreiseverbot für die Deutsche aufgehoben wird. Dogan weiter: „Die Entscheidung zeigt aber auch, dass Tolu unschuldig ist: Wäre sie nach Meinung des Gerichts schuldig, wäre sie wieder im Gefängnis gelandet.“ Von der Bundesregierung erwartet Dogan „Engagement wie bei Peter Steudtner, damit die politische Geisel Mesale Tolu wirklich freikommt.“

Marius Weinkauf, der Leiter des Ulmer Anna-Essinger-Gymnasiums, auf dem Mesale Tolu ihr Abitur abgelegt hatte, sagte: „Das ist ein bitterer Tag für Mesale Tolu, ihre Familie und ihr Kind. Die Entscheidung ist genauso wenig nachvollziehbar wie der ganze bisherige Prozess, der nicht nach unseren Maßstäben verläuft.“ Die Schule und Mesale Tolu hätten bereits vereinbart, dass die Journalistin das Gymnasium nach ihrer Ausreise besucht: „Wir hätten sie gerne in Ulm begrüßt.“