StartseitePanoramaDer Kult der kleinen Leute

Homosexualität

Der Kult der kleinen Leute

Panorama / Lesedauer: 7 min

Das große Lindenstraßen-ABC zur 1500. Folge, die am Sonntag ausgestrahlt wird
Veröffentlicht:26.09.2014, 18:35

Von:
Artikel teilen:

Die „Lindenstraße“ ist Kult. Keine andere zusammenhängende Serie läuft so lange im deutschen Fernsehen wie die WDR-Produktion im Ersten. Seit 29 Jahren verfolgen am frühen Sonntagabend bis zu zwölf Millionen Zuschauer die Schicksale der Familien Beimer, Ziegler, Zenker und Co., die in der fiktiven Münchner Straße leben, lieben, leiden und manchmal sterben. Zur 1500. Folge, die am Sonntag ausgestrahlt wird, bringt die „ Schwäbische Zeitung “ das Lindenstraßen-ABC mit Fakten und Kuriosem.

Aktueller ist keine andere TV-Serie. Die Folgen werden zwar mit einem Vorlauf von drei Monaten produziert, bei wichtigen Ereignissen werden aber regelmäßig kurz vor Ausstrahlung Szenen nachgedreht. Selbst Bundestagswahlen schaffen es aktuell in die Folge, obwohl die Hochrechnungen erst kurz vor Sendestart am Sonntag um 18.50Uhr vorliegen. Das Geheimnis: Mehrere mögliche Ausgänge werden Monate im Voraus gedreht und die Version, die sich dann als die „richtige“ entpuppt, eingespielt.

Bösewichter dürfen in der Lindenstraße nicht fehlen. Wobei selbst die miesesten Menschen ihre guten Seiten haben: Olli Klatt zum Beispiel lügt, stiehlt und erpresst zwar seine Nachbarn, spendet Hajo Scholz aber eine Niere. Und Olaf Kling ist ein echt netter Kerl, wenn er frisch verliebt ist (erst in die Blumenverkäuferin Claudia, dann in die Nigerianerin Mary, am Ende in Bäckereiverkäuferin Ines), wird aber zum besessenen Brutalo, wenn die Frauen nicht mehr so wollen wie er.

Cliffhanger machen das Ende (fast) jeder Folge spannend, sodass die Zuschauer der Fortsetzung entgegenfiebern. Der Cliffhanger wird aber nicht direkt aufgelöst, weil die nächste Folge ja eine Woche später spielt, sondern die Auflösung ergibt sich erst im Lauf der Zeit. Wenn jemand stirbt, wird auf das dramatische Ende verzichtet.

Darsteller der ersten Stunde, die heute noch mitspielen, sind Marie-Luise Marjan als Helga Beimer, Joachim H. Luger als Hans Beimer, Moritz A. Sachs als Klausi Beimer, Ludwig Haas als Dr. Ludwig Dressler, Andrea Spatzek als Gabi Zenker, Hermes Hodolides als Vasily Sarikakis. In Folge zwei kam Sybille Waury (Tanja Schildknecht) hinzu.

Else Kling ist der legendäre Hausdrache der Serie. Bis Folge 1069 (im Jahr 2006) wurde sie von der wunderbaren Annemarie Wendl verkörpert.

Flohbus war die wenig schmeichelhafte Bezeichnung des Nebendarstellers Julian Hagen für die Rastafari-Haarpracht von Moritz Sperling (Momo). Während der fiese Gastronom, der Vasily das Akropolis abspenstig machen wollte, heute in Vergessenheit geraten ist, trägt Momo sein Kleinbiotop immer noch stolz auf dem Kopf.

Homosexualität wurde früh thematisiert

Gastauftritte ehemaliger Darsteller kommen immer wieder vor. Sofern sie in der Serie nicht gestorben sind, versteht sich. Manchmal gibt es aber auch Auftritte von Prominenten. Larry Hagman (Dallas-Fiesling J.R. Ewing) tauchte im Reisebüro auf, zuletzt hatte Dieter Hallervorden einen kleinen Auftritt.

Homosexualität wird in der Lindenstraße schon sehr früh thematisiert. 1987 gab es in der Lindenstraße den ersten „Schwulen-Kuss“ im deutschen Fernsehen. Tanja Schildknecht, die am Anfang der Serie mit ihrem Tennislehrer herumbusselt, danach mit einem französischen Kunsthändler liiert ist, in einem Hostess-Service arbeitet und schließlich den viel älteren Dr. Dressler heiratet, wird später lesbisch und hat verschiedene Beziehungen zu Frauen.

Igelschwänzchen gehört zu den tierischen Kosewörtern in der Serie. So nannte Oma Rosi die kleine Irina. Helga Beimer nennt ihren mittlerweile erwachsenen Sohn Klaus immer noch „Mein Hase“ und wurde von Hansemann, als die Beziehung noch rund lief, „meine Taube“ genannt. „R-r-rehlein“ war Stotterer Hajo Scholzens Kosename für seine Frau Berta Griese.

Jugendsünden gibt es zuhauf in der Lindenstraße. So ballerte Klaus Beimer nach Anleitung seines rechtsradikalen Onkels Franz mit einem Luftgewehr herum und traf dabei Stefan Nossek, der deshalb erblindete. Felix, der Adoptivsohn des schwulen Pärchens Carsten Flöter und Käthe, hatte eine Satanismus-Phase. Mehr zu Jugendsünden siehe auch unter „M“ wie „Mord und Toschlag“.

Köln-Bocklemünd ist der Drehort für die Serie, die eigentlich in München spielt. Die Sendung ist aber nach 29 Jahren so bekannt, dass Post an „Helga Beimer, München“ korrekt zum Set nach Köln geliefert wird.

Lindenstraßen-Zubehör wie DVDs und Kalender und Comics gibt es regelmäßig. Selbst der „Nackte-Männer-Kalender“, mit dem Fotograf Adi Ende 2013 auf Prostatakrebs aufmerksam machen wollte, steht zum Download im Internet bereit. So greifen Fiktion und Realität ineinander.

Der Pfarrer-Pfannen-Mord und andere Sünden

Mord und Totschlag dürfen natürlich auch in der Lindenstraße nicht fehlen. Ausgerechnet die harmlose Anna Ziegler wirft den prügelnden Freund ihrer Tochter Sarah aus dem Fenster eines Hochhauses. Lisa erschlägt als Teenager Pfarrer Steinbrück mit einer Pfanne, und Momo tötet seinen eigenen Vater, weil dieser eine Affäre mit seiner Freundin Iffi hat.

Namen von echten Organisationen werden meist verfremdet. Die „Konservativ Christliche Partei“, für die Klaus Beimer eine Weile als Pressesprecher arbeitet, soll wohl die CDU/CSU sein, und die Sekte „Society“ ähnelt stark Scientology.

Organspenden und andere politisch korrekte Anliegen der Lindenstraßen-Macher werden gern thematisiert. Hajo bekam eine neue Niere, Erich Schiller ein neues Herz. Der Serie wurde oft vorgeworfen, zu linksintellektuell zu sein. Alle sympathischen Personen sind zum Beispiel gegen Atomkraft und engagieren sich für umweltpolitische Themen. Unsympathische Personen wie Onkel Franz oder Olaf Kling hingegen sind eher konservativ bis rechtsradikal.

Produzent der Serie ist Hans W. Geißendörfer, der auch zahlreiche Filme gemacht hat. Wegen einer schweren Nebenhöhlenentzündung in der Kindheit trägt er stets eine Wollmütze.

Queen Elizabeth guckt zwar nicht die Lindenstraße, aber dafür lässt sie angeblich keine Folge des britischen Vorbildes aus: „Coronation Street“ läuft seit 1960 auf BBC.

Rollen werden unterteilt in Hauptrollen, Nebenrollen und Komparsen. Pro Jahr gibt es 40 große und 20 kleinere Hauptrollen, 130 Nebenrollen und 1300 Komparsenauftritte. Will ein Schauspieler mal einen anderen Film drehen oder Theater spielen, tritt er in der Serie eine längere Reise an oder zieht für eine gewisse Zeit weg.

Mindestens bis 2016 soll es weitergehen

Silvester endet immer gleich. Das Ensemble tanzt Walzer vor dem Sarikakis, am Himmel erscheint das neue Jahr in Zahlen.

Torten im Café Bayer sind aus Kunststoff oder Salz-Teig. Nur wenn ein Darsteller tatsächlich hineinbeißt, wird echter Kuchen bestellt.

Unmut unter Fans gibt es vor allem dann, wenn Darsteller ausgetauscht werden. In Zeiten des Internets kann daraus schon mal ein „Shitstorm“ werden, also eine heftige Protestwelle im Netz. Besonders enttäuscht waren die Zuschauer, als die Darstellerin der Sandra Sarikakis, Jennifer Steffens, im Frühjahr 2013 durch Julia Beerhold ersetzt wurde. Auf der Facebook-Seite der Seifenoper schlugen die Wellen deshalb ziemlich hoch.

Vergessene Figuren sind Charaktere, die zwar noch leben, aber dennoch nie wieder aufgetaucht sind. Valerie Zenker (genannt Walze), die als Krankenschwester nach Mexiko ging, ruft ihren Vater Andy noch nicht mal an, geschweige denn, dass sie ihn besucht. Bösewicht Olaf Kling tauchte sang- und klanglos unter. Frisörin Urszula Winicki ist mit ihrem Freund Christian Brenner in einen Münchener Vorort gezogen, besucht ihre alten Freunde aber nie. Und auch die nach Australien ausgewanderte Iffi Zenker ist leider komplett aus der Serie ausgestiegen.

Website: www.lindenstrasse .de, ein Muss für Fans. Da kann man auch Folgen nachträglich anschauen, wenn man in Urlaub war und vergessen hat, den Videorecorder zu programmieren.

Xenophobie ist den Lindenstraßen-Machern ein Gräuel. Es geht ziemlich multikulti zu. Türkische Nachbarn hatte man allerdings lange Zeit vergessen. 1997 erst übernimmt Dr. Ahmed Dagdalen die Praxis von Dr. Dressler. Seine Schwester Canan arbeitet im Reisebüro, und Bruder Murat, der heute noch mitspielt, wandelt sich vom Kleinkriminellen zum sympathischen Biogemüseverkäufer.

Youtube bringt die schönsten alten Folgen online unter www.youtube.de .

Zuschauerzahlen gehen zurück, sind aber immer noch so stabil, dass die Serie bis mindestens 2016 weiterläuft. In den 80ern schalteten zwölf Millionen Menschen ein, heute sind es laut WDR noch 2,7 Millionen. Den Kultstatus gewinnt die Serie durch den hohen Identifikationscharakter. Zu sehen sind keine Ölmilliardäre oder hippe Schönlinge mit Model-Maßen, sondern die Schicksale normaler Menschen.

Die 1500. Folge Lindenstraße läuft am Sonntag, 28. September, um 18.50 in der ARD