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Furioser Auftakt des Filmfestivals in San Sebastián

San Sebastián / Lesedauer: 5 min

„Akelarre“ über die Hexenjagd begeistert Publikum – Woody Allen eröffnet mit dem sehenswerten „Rifkin’s Festival“
Veröffentlicht:20.09.2020, 20:09

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Ein Schriftsteller verliebt sich in seine schöne Ärztin, eine Universitätsdozentin sucht bei einem Russen Befreiung aus dem Alltagstrott, ein paar befreundete Lehrer finden diese im Alkohol, und ein Großinquisitor verguckt sich in eine Hexe: verborgene Leidenschaften, die Sehnsucht nach Exzess und das Räderwerk der Moralapostel. Diese Themen und ihre variantenreiche filmische Umsetzung bestimmen einen furiosen Auftakt an den ersten Tagen des Filmfestivals von San Sebastián.

Seit seiner Gründung vor über 60 Jahren zählt das Filmfestival im nordspanischen San Sebastián zu den bedeutendsten Filmfestivals der Welt. Es stand für symbolischen und realen kulturellen Widerstand im repressiven Franco-Spanien und ist immer noch eine Institution der kulturellen Eigenständigkeit des Baskenlands.

In diesem Jahr gehört San Sebastián eindeutig zu den Gewinnern. Denn das Festival ist nach Venedig das zweite große Kulturereignis der Filmwelt, das tatsächlich stattfindet: real vor Ort, im Kino mit Zuschauern. Natürlich ist vieles anders: Es gibt weniger Gäste, die internationalen Stars bleiben aus und im Alltag herrschen die üblichen Auflagen wie Abstand halten, Maskenpflicht im Kino und regelmäßige Desinfektion. Allemal prägen die Corona-Beschränkungen das Leben in Spanien stärker als bei uns. Doch der Begeisterung der Kinofans (hier kann jeder Bürger Karten kaufen) wie der professionellen Festivalbesucher tut all das keinen Abbruch.

Vor allem aber werden gute Filme gezeigt. Denn San Sebastián profitiert diesmal auch vom Ausfall des Filmfestivals von Cannes im Frühjahr. Mindestens zehn jener hochkarätigen Filme, die Cannes eingeladen hätte, laufen jetzt hier und verwandeln die malerische Concha-Bucht in diesem Jahr in eine spätsommerliche Croisette.

Eröffnet wurde mit dem neuesten Film von Woody Allen : „Rifkin’s Festival“ besitzt den doppelten Charme, in San Sebastián gedreht worden zu sein (woran die baskische Tourismusbehörde ihre helle Freude haben dürfte), und zugleich auf einem Filmfestival zu spielen – womit auch der Narzissmus der Filmbranche bedient wird. Auch sonst ist Allens neuer Film ein Lichtblick im Spätwerk des New Yorker Stadtneurotikers. Im Zentrum steht Rifkin (Wallace Shawn), eine Art Alter Ego des Regisseurs: ein erfolgreicher Schriftsteller und Filmdozent, von Selbstzweifeln gequält. Als Festivalgast verliebt er sich in eine spanische Ärztin, zugleich verfolgt er eifersüchtig seine Frau, von der er vermutet, sie habe eine Affäre mit einem französischen Autorenfilmer.

All das erzählt Allen als virtuoses Spiel mit der Filmgeschichte. Denn fortwährend tagträumt Rifkin sein Leben in Szenen großer Filmklassiker, die Allen und sein Kameramann Vittorio Storaro dann in so liebevollen wie ironischen Referenzen an Allens Lieblingsregisseure Welles, Bergman, Buñuel, Godard und Truffaut in Filmbilder fassen. Mit diesen Seitenblicken auf die Filmgeschichte und großen Darstellern wie Christoph Waltz und Louis Garrel war „Rifkin’s Festival“ allemal ein würdiger Eröffnungsfilm.

Insgesamt gab es an den ersten Tagen leichtere, auch witzigere Filme zu sehen als vor Kurzem in Venedig – was nicht heißt, dass sie keinen Tiefgang hätten. So erzählt der Däne Thomas Vinterberg in überraschender Weise von vier befreundeten Lehrern in der Midlife-Crisis. „Another Round“ beginnt in den ersten Minuten so, dass man ein moraltriefendes Alkoholikerdrama erwartet, verwandelt sich aber bald in eine beschwingte Komödie über Exzess und Freiheit.

Als sich die vier Männer bei einer Geburtstagsfeier ordentlich betrinken, starten sie ein Experiment: Sie nehmen die These mancher Wissenschaftler (es gibt sie wirkich!) wörtlich, nach der ständiger Alkoholkonsum dem Menschen gut tut, und trinken von morgens vor der Arbeit bis um 20 Uhr regelmäßig. Tatsächlich beflügelt das ihren Unterricht, das Ganze gerät aber zwischendurch auch aus dem Ruder. Doch Vinterberg lässt alles heiter enden. Am Schluss tanzt Hauptdarsteller Mads Mikkelsen beschwingt über die ganze Leinwand. Wenn es einen Männerfilm gibt, dann ist es dieser.

Das Pendant dazu bildet „Passion Simple“ von Danielle Arbid. Die Französin hat Annie Ernauxs gleichnamige Novelle verfilmt: Eine Universitätsdozentin hat eine leidenschaftliche Affäre mit einem jüngeren, intellektuell unterlegenen Russen – und verliert sich fast darüber. Der Film ist ein K(l)ammerspiel, das in manchen Sequenzen wie die Karikatur eines französischen Liebesfilms wirkt, dann aber durch großartige Auftritte der beiden Hauptdarsteller besticht. Laetitia Dosch ist eine Entdeckung, Sergei Polunin ein berühmter Tänzer, der an der Pariser Oper bereits für mehr als einen Skandal gut war.

Eine Entdeckung neben diesen etablierten Namen ist der Argentinier Pablo Aguero. Sein an der baskischen Küste gedrehter Film „Akelarre“ war die Überraschung der ersten Tage. Im Jahr 1609 wütete die spanische Inquisition und drangsalierte die baskischen Fischerdörfer. Weil die Männer auf See waren, drohte hier kein Widerstand.

Aber sechs Mädchen versuchen ihrem sicheren Tod zu entgehen, indem sie dem Großinquisitor liefern, was er vermutlich will: Informationen über den Teufel. Wie Scheherazade schmücken sie ihre Erzählung aus und verlängern sie ins Endlose. Irgendwann ist der Inquisitor ihnen verfallen und sie können fliehen.

Der für Netflix produzierte Film lebt von seinen Darstellern (der Deutsche Alex Brendemühl als Inquisitor) und seinem traditionellen baskischen Gesang, der tatsächlich bezirzende Wirkung entfaltet. Und dem Thema Hexenjagd mit seiner Frage: Wie verhält man sich vor dem allmächtigen Verfolger? Die inquisitorischen Fragen zu Sex, Gewalt und der Macht der Blicke wirken heute vor dem Hintergrund unserer Debatten extrem aktuell.