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Spendenaktion bringt Hilfe und Zuversicht

Politik / Lesedauer: 7 min

Spendenaktion bringt Hilfe und Zuversicht
Veröffentlicht:22.12.2017, 18:38

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21 Jahre alt ist die junge Mayan – und Mutter von zwei Kindern. Ein und zwei Jahre alt sind die beiden Mädchen. Die kleine Familie lebt im Camp Khanike, einem von 28 Flüchtlingscamps im Nordirak . Die Verwandten der Frau sind tot, ermordet von Kämpfern der Terrormiliz IS, die im August 2014 im Shingal-Gebirge die dort lebende religiöse Minderheit der Jesiden überfiel, Tausende tötete und die Überlebenden vertrieb. Die damals 18-Jährige wurde verschleppt, mehrere Male verhaftet und musste den IS-Terroristen als Sexsklavin dienen. Und sie wurde schwanger: „Wenn ich in die Augen meiner Kinder schaue, schaue ich in die Augen der Mörder meiner Familie!“ Erst nach drei Jahren konnte sie sich befreien.

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Nach Schätzungen von Hilfsorganisationen wurden 2014 etwa 5000 Mädchen und Frauen der Minderheit der Jesiden verschleppt. Etwa jede zweite sei als Sexsklavin missbraucht worden. „Ältere Frauen mussten auch durch die Hölle, haben aber nicht das erlebt, was jüngere Mädchen durchgemacht haben“, sagt Thomas von der Osten-Sacken von der Hilfsorganisation Wadi. Manche Jesidinnen seien einfach geflohen. Andere seien von ihren Familien freigekauft worden. 3000 Frauen und Mädchen sollen sich heute noch in der Gewalt der mittlerweile militärisch besiegten, aber untergetauchten IS-Kämpfer befinden.

Leid auch nach der Befreiung

Jan IIhan Kizilhan, ist Orientalist und Psychologe und leitet den Studiengang Psychische Gesundheit und Sucht an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Villingen-Schwenningen. Er hat selber türkisch-kurdische Wurzeln, engagiert sich seit langer Zeit im Nordirak und weiß: „Solche Geschichten sind leider Alltag in Kurdistan.“ Hunderttausende Menschen im Irak seien der Gewalt der Extremisten ausgesetzt gewesen. Das Leiden geht weiter: „Auch nach ihrer Befreiung leiden sie unter schweren Traumata, ohne dass es eine angemessene Behandlung gibt.“ Er appelliert mit Blick auf 1900 schwer traumatisierte Mädchen und Frauen, sich dieser anzunehmen: „Sie halten es in den Zelten kaum aus und drohen, ohne Behandlungsmöglichkeit chronisch krank zu werden.“

Gerade für Gewaltopfer wie jene junge Frau mit ihren beiden Kindern ist Hilfe in Sicht: Aus Mitteln der Weihnachts-Spendenaktion der „ Schwäbischen Zeitung “ soll die Arbeit von vier ausgebildeten Therapeuten für mindestens ein Jahr finanziert werden. In den Camps Mam Rashan und Sheikhan, über die in den vergangenen Monaten ausführlich berichtet wurde, könnten die Psychotherapeuten bereits im Januar mit der Behandlung der Traumaopfer beginnen. Die Voraussetzung sind weitere Spenden. Die Leiter der beiden Camps, Shero Smo und Amer Abo, freuen sich über die Aussichten, professionelle Hilfe für die Bewohner der Camps zu erhalten: „Da die kurdische Autonomiebehörde nach den Auseinandersetzungen mit der Zentralregierung in Bagdad kein Geld mehr für die Gehälter hat, brauchen wir jede Hilfe.“ Die therapeutische Hilfe sei ein „Tropfen auf den heißen Stein“: „Aber besser ein Anfang als gar nichts!“

Hilfe in den Camps dringend benötigt

Professor Kizilhan hält diese Arbeit für absolut notwendig: „Denn in den Camps leben viele Traumaopfer, die dringend der Hilfe bedürfen.“ Der Wissenschaftler weiß: „Für die Drei- bis Fünfjährigen sind solche Erfahrungen am schlimmsten. Sie stehen unter Schock.“ Kizilhan spricht hier von der Altersphase, „in der Kinder besonders verletzlich sind und später psychische Erkrankungen entwickeln, die ihre Persönlichkeit verändern“. Dazu gehöre auch die Entwicklung einer ängstlich-vermeidenden, instabilen Persönlichkeit. Dann werde es für sie sehr schwer, im Leben überhaupt Fuß zu fassen.

Ansätze gibt es: Schulen, in denen Kinder nicht nur Kurdisch, Mathematik, Lesen oder Schreiben lernen: „Sie lernen dort auch Strukturen für den Tag.“ Genauso aber brauchen die Kinder Fußballplätze oder auch einen Spielplatz: „Kinder müssen spielen“, weiß Kizilhan. Und nicht nur das: „Beim Spiel erlernen die Kinder wieder Vertrauen in Gleichaltrige, sie machen die Erfahrung, dass Menschen nicht Böses tun müssen.“ Denn der IS habe auch Kinder zu Soldaten erzogen, ihnen abverlangt, Gleichaltrige zu töten oder zuzusehen, wie andere Kinder zum Suizid gezwungen wurden: „Die Kinder brauchen die Distanz zur Grausamkeit, das lernen sie in der Schule, auf dem Spielplatz oder auf dem Fußballplatz.“

Und auch die Erwachsenen benötigen Strukturen im Tagesablauf. Daher sei es richtig, beispielsweise in den Camps Mam Rashan oder Sheikhan Ladenlokale aufzubauen oder Gewächshäuser zu errichten. Der Psychologe Kizilhan erklärt: „Wer beispielsweise in einem solchen Ladenlokal Arbeit hat, erlernt wieder Selbstständigkeit, lebt Strukturen, erfährt Sinn durch Arbeit und merkt durch die Selbstbestimmung vor allem, dass das Leben weitergeht!“

Leserspenden zeigen Wirkung

Zur Selbstbestimmung trägt auch das Jugendzentrum im Camp Mam Rashan bei, das aus Mitteln der Weihnachtsspendenaktion 2016 errichtet wurde. Dort lernen junge Jesidinnen, eigene Kleider zu nähen. Neben dem praktischen Nutzen ist ein psychologischer Aspekt wichtig: „Die Frauen sollen tagsüber eine schöne Umgebung vor Augen haben, nicht ständig den Alltag im Camp“, erklärt Shero Smo.

Im Nordirak sind Ansätze wie in den Camps erst der Beginn der psychologischen Versorgung: „Für rund 5,5 Millionen Menschen im Nordirak stehen nur 26 Psychotherapeuten zur Verfügung, sagt der Wissenschaftler Kizilhan: „Diese sind angesichts der vielen Gewaltopfer völlig überfordert.“ Denn Verletzungen würden von Generation zu Generation weitergegeben. Bei der religiösen Minderheit der Jesiden seien das 74 Genozide in 800 Jahren. Aufgrund dieser Geschichte habe sich das Verhalten der Jesiden gegenüber Fremden verändert.

Hoffnung in Sicht

Daher richten sich die Hoffnungen auf das im März eröffnete Traumazentrum in der Provinzhauptstadt Dohuk. Erstmals in der Geschichte des Irak werden Psychotherapeuten ausgebildet. Seit Anfang März werden dort 30 Männer und Frauen, die bereits einen Bachelor-Abschluss in Psychologie, Sozialarbeit oder Psychiatrie haben, in einem Master-Studiengang „Psychotraumatologie“ ausgebildet.

Kizilhan, der neben seiner Tätigkeit in Villingen-Schwenningen die Lerninhalte für den Studiengang mit erarbeitet hat und Dekan des Studienganges ist, hofft, dass das an der Universität Dohuk angesiedelte Traumazentrum zu einer Keimzelle für weitere vergleichbare Angebote im Irak wird. Ausgebildet werden die Studierenden über drei Jahre nach deutschen Standards. Und es gibt eine enge Zusammenarbeit mit dem Land Baden-Württemberg, das sich seit dem IS-Überfall für Jesiden besonders einsetzt: Die Landesregierung in Stuttgart garantiert den Studierenden Stipendien für die ersten 18 Monate.

Ein halbes Jahr nach der Gründung ist das Zentrum sehr gefragt. Es gebe Anfragen für Kooperationen verschiedener Nicht-Regierungsorganisationen und Flüchtlingscamps, die um Hilfe für psychisch Erkrankte durch die Studenten bäten, teilt das Wissenschaftsministerium in Stuttgart mit. Kooperationen gibt es bereits oder sind geplant mit der Caritas, der nordirakischen Universität Koya, an der Dozenten aus Deutschland unterrichten sollen, und der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ).

Erste Erfolge zu sehen

Beide Seiten könnten voneinander lernen, meint die baden-württembergische Wissenschaftsministerin Theresia Bauer: „Wir haben sehr bewusst dieses Vorhaben nicht als Einbahnstraße angelegt.“. Insbesondere könne die Therapie von Migranten in Deutschland= vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Dohuk optimiert werden. Auch öffne das mit einer Million Euro finanzierte Projekt den Blick auf Phänomene, die in der westlichen Kultur nicht so augenscheinlich, aber dennoch von Bedeutung seien.

Die ersten Absolventen aus diesem Studiengang haben bereits Praktika in den Camps wie Mam Rashan oder Sheikhan absolviert. Schon bald werden sie dort Therapien anbieten: „Wir sind keine Nicht-Regierungs-Organisation, die Menschen bei akutem Bedarf kurzfristig behandelt, sondern wir wollen Profis ausbilden, die den traumatisierten Menschen dort langfristig helfen“, erläutert Professor Kizilhan, „und dafür brauchen wir auch Hilfe wie aus der Weihnachtsaktion der ,Schwäbischen Zeitung’.“