StartseitePanoramaInterview: „Flucht alleine ist schon ein Trauma“

Trauma

Interview: „Flucht alleine ist schon ein Trauma“

Panorama / Lesedauer: 6 min

Die Psychologin Marlene Pfaffenzeller gibt Opfern eine Stimme
Veröffentlicht:30.12.2015, 17:00

Artikel teilen:

Sie hört zu, wenn sie sprechen wollen, gibt ihnen Mut und Halt, wenn sie verzweifelt sind. Marlene Pfaffenzeller ist Psychiaterin, Neurologin und Psychoanalytikerin. Sie hat bis 2009 in ihrer Praxis in Berlin Patienten behandelt, darunter viele Flüchtlinge. Danach ist sie nach Kolumbien gegangen, wo ihr Sohn lebte. Sie ist zu Gewaltopfern in Ruanda, Argentinien, der Türkei und in Ex-Jugoslawien gereist und kümmert sich momentan unter anderem um Flüchtlinge aus dem Nahen Osten. Sabine Lennartz sprach mit der 72-jährigen Psychologin über Behandlungsmethoden, traumatisierte Flüchtlinge und ihren eigenen Antrieb, immer weiter zu machen.

Frau Pfaffenzeller, Sie kommen gerade aus dem Grenzgebiet zwischen Türkei, Irak und Syrien wieder. Was haben Sie dort erlebt?

Die Geschichten der Menschen sind einfach fürchterlich, ich habe jesidische Frauen besucht, die von Vergewaltigungen berichtet haben. Viele haben ihre Angehörigen verloren, es gibt Mütter, deren Söhne gegen den IS kämpfen. Die Flüchtlinge in den Sindschar-Bergen haben mich mit ihren Geschichten sehr beeindruckt. Sie fühlen sich unsicher, der IS ist nur wenige Kilometer weit weg. Fast alle wollen nach Deutschland.

Ist es sinnvoller, die Traumatisierten in der Nähe ihrer Heimat zu behandeln, oder ist es für die Opfer wichtig, fern des Orts ihrer Qual zu sein?

Flüchtlinge sind nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Menschen – und jeder Mensch ist anders. Wenn Menschen die Angst nicht mehr aushalten, dann ist es sinnvoller, wenn sie fliehen. Für viele aber ist es besser, wenn sie vor Ort behandelt werden, weil es dort die bekannten Strukturen gibt, weil ihre Sprache verstanden wird. Ich habe gerade mit Jesiden gesprochen, die noch in der Nähe ihrer Heimat sind. Die jungen Frauen kämpfen, sie nehmen eine Waffe in die Hand, sie bauen Schulen und Krankenhäuser auf. Viele ältere Frauen aber sind schwerst traumatisiert, es ist sehr schwer, an sie heranzukommen, aber sie brauchen dringend Hilfe.

Sie haben in Berlin lange Zeit Flüchtlinge behandelt und sich auch in deren Herkunftsländern ein Bild gemacht, überwiegend in der Ost-Türkei und im ehemalige Jugoslawien. Was treibt Sie an?

Ich will wissen, was los ist. Ich habe ein Bild im Kopf, wenn mir Menschen von ihrer Heimat, von ihrer Flucht oder ihren Qualen erzählen. Aber um mein Bild zu überprüfen, muss ich die Situation vor Ort sehen. Deshalb bin ich während und kurz nach dem Bosnien-Krieg ins Kosovo gereist. Wenn ich von der Ausländerbehörde den Auftrag bekomme, über die Situation eines Flüchtlings zu schreiben, dann muss ich sie doch genau kennen.

Haben Sie viele Flüchtlinge getroffen, bei denen gute Gründe gegen eine Abschiebung vorliegen? Oder können manche auch guten Gewissens in ihre Heimat geschickt werden?

Ja und Nein. Ich denke oft, wenn Flüchtlinge eine Chance auf die Rückkehr nach Deutschland hätten, wäre es für viele einfacher, zu gehen. Aber wenn sie in ihre Heimat zurückkehren und kein Recht mehr haben, wieder einzureisen, hält das besonders Menschen mit Kindern ab. Viele sagen: „Ich alleine würde mich durchschlagen, aber ich möchte meine Kinder schützen.“

Können Sie einschätzen, wie viele der Flüchtlinge, die derzeit nach Deutschland kommen, traumatisiert sind?

Ich glaube, dass das sehr gemischt ist. Viele sind zusätzlich durch die lange Flucht traumatisiert. Flucht alleine ist schon ein Trauma.

Sind die deutschen Flüchtlingslager darauf eingerichtet?

Flüchtlinge brauchen zuallererst Ruhe, einen Raum, wo sie sicher sind und allein sein können, Riesensäle ohne Rückzugsmöglichkeit und mit hoher Lärmbelästigung, sind schlimm. Aber zur Zeit kann man Flüchtlingen wohl nichts anderes anbieten.

Und was geschieht mit den Traumatisierten?

Das kommt auf die Menschen an. Wenn jemand schwere Panikzustände hat, muss er engmaschig behandelt und kontinuierlich betreut werden. Da gibt es derzeit zu wenig Möglichkeiten, zu lange Vorlaufzeiten für die Therapie. Aber es gibt auch viele Menschen, die funktionieren noch ziemlich lange sehr gut und brechen dann erst zusammen, wenn sie in Sicherheit sind und Ruhe haben. Die Therapien sind dann sehr vielfältig, manche Menschen arbeiten künstlerisch, manche tanzen, es gibt verschiedene Arten der Bewältigung. Sehr wichtig sind therapeutische Gespräche.

Sind Kinder besser als Erwachsene in der Lage, alles zu vergessen oder zu bewältigen?

Anna Freud hat ja schon über die Kinder im Bombenkeller in London geschrieben. Wenn die Erwachsenen ruhig bleiben und das an die Kinder vermitteln, haben Kinder häufig gute Chancen. Ich glaube nicht, dass die alle traumatisiert sind.

Was würden Sie der deutschen Politik derzeit raten im Umgang mit Flüchtlingen?

Ruhe bewahren und das, was aus der Bevölkerung an Hilfe kommt, besser strukturieren. Aber man sollte auch das Potenzial der Flüchtlinge besser ausschöpfen. Es gibt darunter Krankenschwestern oder Lehrer, die sollten schnell, wenn möglich auch in der Flüchtlingsarbeit, eingesetzt werden.

Was macht Ihre Arbeit mit Ihnen? Leiden Sie mit? Werden Sie wütend auf die Politik?

Als ich noch in meiner Praxis war und sehr eng mit den Menschen gearbeitet habe, hat mich das häufig Tag und Nacht verfolgt. Zum Teil erzählen die Flüchtlinge ja extrem belastende Geschichten, und die muss man an die Behörde weitergeben und einschätzen.

Heute sind Sie ehrenamtlich in Krisengebieten unterwegs. Was machen Sie da konkret?

Ich möchte vor allem meine Erfahrungen an andere weitergeben und dabei helfen, Frauen auszubilden, dass sie künftig Traumatisierten helfen können. Dafür ist es wichtig, zu wissen, welche Behandlungsmöglichkeiten in der jeweiligen Kultur sinnvoll sind und wie eine konstruktive Zusammenarbeit vor Ort aussehen könnte.

In Ihrem Buch „Todesangst und Überleben nach extremer Gewalt“ (Kulturmaschinen-Verlag) geben Sie Gefolterten in der Türkei, in Südamerika und Ruanda eine Stimme, sie lassen sie erzählen, ohne selbst ihre Fälle zu bewerten. Warum?

Ich wollte nicht in einen Gutachterstil kommen, sondern den Opfern eine Stimme geben. Ich wollte Menschen zu Wort kommen lassen, die sonst nicht zu Wort kommen. Aus Mitgefühl für die vielen, die überall auf der Welt gequält werden und die man zum Schweigen gebracht hat.

Ihr Einsatz ist sehr schwierig. Was erfüllt Sie an Ihrer Arbeit?

Es ist immer besser, einem Menschen zu helfen als gar keinem. Meine Enkeltochter sagt manchmal zu mir „Mach doch mal schön Urlaub“. Aber man kann nicht einfach abschalten. Wenn die Welt anders aussehen würde, wäre das einfacher. Ich wünschte mir, wir könnten eine Welt schaffen, in der die Menschen nicht gezwungen sind, aus Angst um ihr Leben ihre Heimat zu verlassen oder noch besser, wir könnten eine Welt schaffen, in der jeder Mensch frei entscheiden kann, wo er leben möchte.