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Flüchtlinge

Wirtschaft wehrt sich gegen Abschiebungen

Wirtschaft / Lesedauer: 7 min

Oberschwäbische Unternehmer wehren sich gegen die Abschiebung der von ihnen beschäftigten Flüchtlinge
Veröffentlicht:05.12.2017, 19:05

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So kritisch Markus Winter auch schaut, er ist hochzufrieden. Hochzufrieden mit der Arbeit von Rageeb Ghamshareek. Der Afghane feilt Grate von Getriebegehäusen weg, kontrolliert und macht sie für den Versand fertig. Seit gut eineinhalb Jahren arbeitet der Mittvierziger für den Industriedienstleister IDS aus Unteressendorf (Kreis Biberach). Er verließ seine Heimat auf der Flucht vor den Taliban und auf der Suche nach einer Zukunft. In IDS-Chef Markus Winter fand er am anderen Ende der Welt einen Menschen, der ihn dabei unterstützte.

+++ Integrationsminister Manne Lucha: "Geflüchtete wollen schaffa" +++

Den Anstoß, Menschen wie Rageeb Ghamshareek eine Chance zu geben, erhielt Markus Winter aus Berlin – genauer gesagt von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihrem Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD). Das war im Winter 2015/16, als über die Balkan-Route innerhalb weniger Monate fast 800 000 Menschen nach Deutschland kamen. Die Erstaufnahmeeinrichtungen waren überfüllt, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) war hoffnungslos überfordert mit der Bearbeitung der Asylanträge. Im Frühjahr baten Merkel und Gabriel dann die Wirtschaft um Hilfe, sie warben darum, dass Betriebe Geflüchteten ein Praktikum, eine Ausbildung oder eine Beschäftigung anbieten. „Am Ende entsteht Integration durch Arbeit“, sagte Gabriel damals.

Politik fordert - Unternehmer folgen

Einen Appell, den Markus Winter ernst nahm – nicht nur wegen der hochrangigen Bittsteller, sondern auch aus Überzeugung. Er hat ohne Ansehen der Person und ohne zu berücksichtigen, ob die Flüchtlinge eine Chance haben zu bleiben, Menschen eine Chance gegeben. Genau wie Merkel und Gabriel das verlangt haben. „Wir haben versucht, die Leute so schnell wie möglich in Lohn und Brot zu bringen“, sagt der 50-Jährige. „Und wir haben es geschafft, dass aus Transferleistungsempfängern Sozialversichungsbeitragszahler geworden sind.“ Es ist ein Satz, den Winter wiederholt, denn genau darauf ist er stolz. Die knapp 60 Flüchtlinge, die bei ihm arbeiten, im Zulieferbereich für die Autoindustrie, bei der Verwaltung und Instandhaltung von Industrieanlagen, stehen auf eigenen Beinen.

Doch Winter hat ein Problem: Mittlerweile arbeitet das Bamf die liegen gebliebenen Asylanträge ab – und nicht jedem Antrag wird stattgegeben. Und so sind nun auch ein Großteil der bei IDS arbeitenden Flüchtlinge von der Abschiebung bedroht. „Wir haben der Politik geholfen, wir haben Zeit, Mühe und Arbeit investiert, und nun werde ich bestraft, indem man sie mir wieder wegnimmt“, sagt Winter.

Frust macht sich breit

Er sei sauer. „Ich fordere, dass man genau für diese Fälle eine vernünftige und pragmatische Lösung findet“, sagt Winter, der Mitglied in der CDU ist. Einen Ausweg sieht er nicht, denn er macht sich keine Illusion über die Möglichkeit, die ihm immer wieder vorgeschlagen wird: die Drei-plus-Zwei-Regelung, die einem Flüchtling für drei Jahre Ausbildung und zwei Jahre Arbeit ein Bleiberecht garantiert, funktioniere nicht. „Die Menschen kann man anlernen, aber sie sind nicht ausbildungsfähig.“

Keinen Hehl macht Markus Winter daraus, dass er nicht nur aus uneigennützigen Gründen frustiert ist. Wenn Rageeb Ghamshareek und seine Kollegen Deutschland verlassen müssen, kann der Unternehmer sie nicht einfach ersetzen. In Oberschwaben ist es schwer, Arbeitskräfte zu finden, vor allem für einfache Arbeiten. „Ich habe sie angelernt, sie sind hochmotiviert, und wenn ich die Teile nicht fertig machen kann, dann stehen bei meinen Kunden die Bänder“, sagt Winter. Im Automobilbereich gehören dazu auch Daimler und Handtmann, bei den Industrieleistungen greifen EBZ und Liebherr auf die Angebote des 20-Millionen-Euro-Umsatz-Unternehmens zurück.

Brief an Kanzlerin Merkel

Vaude-Chefin Antje von Dewitz kämpft mit dem gleichen Problem. Der Tettnanger Outdoor-Hersteller beschäftigt neun Flüchtlinge – und kämpft gegen die Abschiebung. Die Anwaltskosten sind auf einen fünfstelligen Betrag gestiegen, die Produktionsausfälle summierten sich vor wenigen Wochen auf rund 250 000 Euro. Von Dewitz war so bestürzt angesichts der drohenden Abschiebungen, dass sie kurzerhand Angela Merkel einen Brief schrieb. Darin sprach sie sich für „ein Bleiberecht und Rechtssicherheit von Geflüchteten“ aus, die sich bereits durch Festanstellung erfolgreich in den Arbeitsmarkt integriert haben. „Ich nehme wahr, dass viele Unternehmen die gleichen Erfahrungen machen, der Brief sehr viel Zustimmung erhält und sich auch gleich mehrere den Forderungen angeschlossen haben“, sagt von Dewitz.

Die IHK Bodensee-Oberschwaben kennt die Probleme von Winter und von von Dewitz. Zahlreiche Unternehmen im Südosten Baden-Württembergs engagieren sich nach Angaben von Hauptgeschäftsführer Peter Jany bei der Integration von Flüchtlingen – sei es durch die Schließung eines Ausbildungsvertrages oder deren Beschäftigung. „Diese Unternehmen stehen aber durch die Abschiebepraxis und die damit verbundenen Unklarheiten oftmals vor großen Herausforderungen und fühlen sich hierbei alleingelassen“, sagt Jany der „Schwäbischen Zeitung“.

Zeit und Geld in Integration investiert

Die Unternehmen investierten Geld, Zeit und persönliches Engagement in diese Menschen. „Alle Beteiligten brauchen eine klare und sichere Perspektive. Nur so kann das gewünschte Engagement der Wirtschaft für die Integration der Flüchtlinge wachsen und erfolgreich sein“, erläutert Jany.

Hoffnung auf diese klare Perspektive macht Baden-Württembergs stellvertretender Ministerpräsident und Minister für Inneres, Digitalisierung und Migration, Thomas Strobl (CDU), weder den Unternehmen, noch den Beschäftigten. „Im Ausländerrecht gilt der Grundsatz, dass aus einer Beschäftigung kein Bleiberecht folgt“, sagte ein Sprecher Strobls. Man müsse im Einzelnen entscheiden, ob die Drei-plus-Zwei-Regelung greift.

Wirtschaftsminister Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) verweist auf denselben Grundsatz, an dem die Behörden nicht vorbeikommen, fordert aber neue gesetzliche Regelungen, um solche Probleme künftig zu lösen. Klar sei, dass die Vermittlung in Arbeit eine entscheidende Rolle bei der erfolgreichen Integration der Geflüchteten spielt. Hoffmeister-Kraut will sich deshalb für ein „flexibles Fachkräfte-Zuwanderungsgesetz einsetzen, das die Einwanderung qualifizierter Fachkräfte entlang des Bedarfs und möglichst unbürokratisch ermöglicht“.

Lucha will Ausländerrecht aufbrechen

Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) will im Gegensatz zu seinen Kabinettskollegen das starre Ausländerrecht aufbrechen und flexibler gestalten. „Es trifft in der Bevölkerung und bei den Unternehmen zu Recht auf Unverständnis, wenn diejenigen Flüchtlinge nun ausreisen sollen, die integrationswillig sind, die Sprache beherrschen und einen Job gefunden haben“, erklärt Manfred Lucha. „Nach meiner Auffassung sollte künftig das einfache Prinzip gelten: Wer im Land gebraucht wird, die notwendigen Papiere vorlegen kann, hier arbeitet oder eine Ausbildung macht und sich nichts zuschulden kommen lässt, der sollte auch bleiben dürfen.“ Unter notwendigen Papieren versteht Lucha lediglich den Ankunftsnachweis, den Flüchtlinge nach ihrer Registrierung ausgehändigt bekommen.

Es wäre die pragmatische Lösung, die Markus Winter und Antje von Dewitz für sich und ihre Unternehmen fordern. Und über die sich auch Rageeb Ghamshareek freuen würde. Für sich und seine geflüchteten Kollegen.

Asylbegehrende in Baden-Württemberg

  • Nach Baden-Württemberg kamen 2014 25 673 Asylbegehrende, also Menschen, die nach ihrer Registrierung im Südwesten blieben, um einen Asylantrag zu stellen. Diese Zahl stieg 2015 auf 97 822, im Jahr 2016 waren es 32 947 Flüchtlinge. In diesem Jahr kamen bis Oktober 13 265 Flüchtlinge nach Baden-Württemberg.
  • Im Ausländerrecht gilt der Grundsatz, dass eine Beschäftigung kein Bleiberecht mit sich bringt, eine dauerhafter Aufenthalt ist immer an einem stattgegebenen Asylantrag oder im Fall einer Ablehnung an eine Duldung gekoppelt.
  • Eine Ausnahme ist die sogenannte Zwei-plus-Drei-Regel: Die Regel besteht darin, dass ein Ausländer, der als Asylbewerber eine Ausbildung in Deutschland begonnen hat und die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt, auch dann die Ausbildung abschließen und eine zweijährige Anschlussbeschäftigung ausüben kann, wenn sein Asylantrag abgelehnt wird.