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Lohnpolitik

Vom Jobkiller zur Konjunkturstütze

Wirtschaft / Lesedauer: 3 min

Ökonomen stützen die Forderung der Gewerkschaft nach höheren Löhnen
Veröffentlicht:16.11.2017, 19:41

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Wieder einmal stehen die Gewerkschaften wegen ihrer Lohnpolitik am Pranger. Aber diesmal ist es vollkommen anders als in vielen Jahren zuvor. In denen hatten Arbeitgeber, Bundesbank, Wirtschaftsinstitute sowie selbsternannte Ökonomie-Experten die Arbeitnehmerorganisationen getadelt für vermeintlich zu hohe Forderungen.

Diesmal halten ihnen Währungshüter, Wirtschaftsanalysten und Vertreter des linken Spektrums vor, sie müssten endlich für höhere Lohnsteigerungen sorgen. Die unterstützt auch Christine Legarde, Chefin des Internationalen Währungsfonds. Ebenso die Europäische Zentralbank (EZB); deren Ratsmitglied Ewald Nowotny begründete dies jüngst mit „deutlich gesunkenen Arbeitslosenquoten“.

Was für eine Kehrtwende in der ökonomischen Debatte: Früher galten zu hohe Forderungen als Jobkiller. Jetzt heißt es, zu geringe Gehaltserhöhungen der Vergangenheit seien schuld an wachsender sozialer Ungleichheit; seien Quelle für das Gefühl vieler, der Aufschwung gehe an ihnen vorbei. Höhere Lohnsteigerungen in Deutschland fordern manche auch zur Stärkung der Konjunktur in den kriselnden Euro-Staaten Südeuropas: Wenn deutsche Produkte teurer werden, dann haben andere Nationen bessere Absatzchancen.

Vor genau diesem Effekt warnen aber aktuell die Metallarbeitgeber. Sie weisen in traditioneller Manier die IG-Metall-Forderung für die Mitte November beginnenden Tarifgespräche (sechs Prozent mehr Gehalt und individuelle Arbeitszeitverkürzungen) brüsk zurück als Gefahr für 200 000 Arbeitsplätze. Doch anders als früher unterstützt sie dabei nur noch das von den Arbeitgebern finanzierte Institut der deutschen Wirtschaft. Bundesbank-Präsident Jens Weidmann meint hingegen ungewöhnlich verständnisvoll, die Gewerkschafts-Forderung spiegele „die außergewöhnliche gute Konjunkturlage wider“. Die IG Metall hatte selten ein so gutes Umfeld für eine Tarifrunde.

Ökonomisch ist die Lage für die Gewerkschaften schon länger ausgesprochen günstig: Die Zahl der Arbeitslosen sinkt immer weiter. Mancherorts herrscht Vollbeschäftigung. Fachkräfte werden gesucht. Alles Faktoren, die die Ware Arbeit eigentlich deutlich verteuern, Löhne stärker steigen lassen müssten. Zumal ein Ende des Wirtschaftsaufschwungs nicht in Sicht ist (der längste seit 1945). Doch in Deutschland sind die Bruttolöhne von 2000 bis 2016 nur um zwei Prozent gestiegen, im EU-Schnitt hingegen um 2,4 Prozent. 40 Prozent der Beschäftigten verdienen hierzulande real weniger als vor 20 Jahren.

Ein Grund: Der Niedriglohnsektor ist gewaltig gewachsen. Nur Litauen hat innerhalb der EU prozentual noch mehr Beschäftigte mit Mini-Löhnen. Eine andere Ursache ist die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften in und nach der Finanzkrise. Hinzu kommt eine Argumentationsschwäche: Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften begründen ihre Tarifforderungen in der Regel mit der Entwicklung von Inflation und Produktivität. Das letztere trotz guter Konjunktur anders als früher nicht nennenswert über ein Prozent steigt, schwächt die Gewerkschaftsposition und macht manche Ökonomen ratlos. Andere meinen, Firmen investierten zu wenig, um eine höhere Produktivität erzielen zu können.

Ausschlaggebender für die Gehaltsentwicklung der letzten Jahre ist aber der Strukturwandel hin zur Dienstleistungsgesellschaft. Gut bezahlt wird Arbeit in der Industrie. Im Dienstleistungssektor liegen die Einkommen darunter. Das waren einst Minibranchen. Heute arbeiten hier aber fast drei Viertel der Beschäftigten. Das drückt den Schnitt in der Lohnentwicklung gewaltig. Zumal hier weniger Firmen unter eine Tarifbindung fallen als im produktiven Gewerbe. Insgesamt sind nur noch 50 Prozent der Beschäftigten in einem tarifgebundenen Unternehmen. Früher waren es weit mehr als 70 Prozent.

Die Lohnentwicklung im Dienstleistungssektor bleibt auch deshalb hinter der Industrie zurück, weil hier der Organisationsgrad der Gewerkschaften schwächer ist. Und damit auch ihre Durchsetzungsfähigkeit in Lohnverhandlungen. Insgesamt sind nur noch 17 Prozent der Beschäftigten Mitglied einer Gewerkschaft. Halb so viele wie noch vor Jahrzehnten. Insofern sind die Arbeitnehmer also zum Teil selber schuld, dass ihre Gehälter nicht stärker steigen.